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„Ohne Auftrag leben“?

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Sansibar oder der letzte Grund. Roman. Von Alfred Änderteh. Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau. 212 Seiten

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Sansibar oder der letzte Grund. Roman. Von Alfred Änderteh. Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau. 212 Seiten

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Er ist ein Ausbrecher- und Rebellenstück, dieser Roman, und eine Fluchtgeschichte. Er ist das Buch eines Aufgebrachten, der, einem Totalitarismus entronnen, die „Kirschen der Freiheit“ geschmeckt hat. In ihm wühlt das Unbehagen in dieser Zeit der Engagements und Konformitäten. In einer Nacht geht eine Flucht vonstatten, in einem Boot übers Wasser in ein anderes Land, und alles ist Aufbruch und Absprung aus dem Festgefahrenen und Eingekeilten und „aus Rerik, wo nichts los ist". Doch die Fabel ist nur der Vorwand, um einiges zur Sprache zu bringen, das Andersch und auch andere beschäftigt.

Waren es einst die Väter und war es später die Gesellschaft der Bürger, gegen die die Freiheitslüsternen aufbegehrten, so ist es heute das Summa summarum unserer Tage, das sie rebellisch macht. Sie fühlen sich beengt und eingezwängt, staatlich versorgt und reglementiert, in Parteien, Ideologien und approbierte Doktrinen verpackt, vorausversichert und vorausverplant, von allen Seiten in Engagements hineingezwungen, an die „Konsumfront" verschickt und schon fürs ganze Leben mit Aufträgen versehen, um irgendein „Soll" zu erfüllen. Man soll so werden, wie sie einen haben wollen; sie lassen uns keine Wahl mehr und darum kann man jetzt nur noch fügsam werden oder „abhauen"; in die großen Wälder gehen und abseits. Es ist das Unbehagen in der Domestikation, das hier mottet und frißt.

Auf dem Grunde liegen Enttäuschung, Aerger, Langeweile; liegt das, was die „Halbstarken“ in ihre ungeregelten Ausbrüche treibt; das, was den Clochard in Paris daran hindert, sich in die Gesellschaft einzufügen; liegt das Gefühl, am Gängelband der sogenannten Kultur gehalten zu werden. Man will keine Kuh mehr sein, die man nur im Stalle hält und von der behauptet wird, sie sei erschaffen worden, um Milch zu geben und gemolken zu werden. Was lockt, das ist die Katze, die sich an keinen bindet und herumstreicht, wo sie will.

„Kann man das", fragt Gregor in diesem Roman, „ohne Auftrag leben?“ Er scheint es für möglich zu halten; aber nur, wenn er untertaucht und über die Grenze geht. Doch überall sind schon Ställe, und es ist nicht leicht, ein Land zu finden, in das man fliehen kann. Viele Wälder sind gerodet worden, und Sansibar hinter der hohen See ist wohl auch nicht mehr das, was der Fischerjunge erwartet. Es wird eine Flucht in eine Enttäuschung, das sieht man vor-

aus. Aber soll man das schon sagen? Die Andersch- Gläubigen scheinen noch voller Hoffnung zu sein

Was uns in diesem Roman beschäftigt, das sind nicht Ziele, die noch nicht gesehen werden, Wege, die nur Auswege sind und vielleicht nirgendwo hinführen, nebulöse Dinge, wie das „Unversicherbare“ oder „Sansibar hinter der hohen See", Worte, die nur etwas Ungefähres anzudeuten versuchen, sondern das ist der Versuch, wieder Luft zu bekommen, in Romanen nun nicht mehr nur noch von Wüsten zu reden, in denen man doch nur verdursten kann, von Löchern, in denen man verfaulen wird, existentialistisch verbittert über das Leben nur nachzudenken, statt zu leben. Mir scheint, man täte gut daran, das Bedürfnis nach ein wenig Vaga- bondage und Entdomestikation nicht allzu unernst zu nehmen, denn es ist ein legitimes Bedürfnis geworden, etwas illegitim zu werden, um weiterleben zu können. Und was uns in diesem Roman beschäftigt, das ist der Versuch, sich mit etwas Romantik Erleichterungen zu verschaffen. Man hat sie nötig.

Es ist zwar noch manches sehr deutsch und ver- grübelt in diesem Buch; und Figuren wie der Pfarrer Helander wirken wie zusammengesetzt aus Restbeständen eines noch immer nicht ganz überwundenen Expressionismus. Aber darüber kann man hinwegselfen und trotz der hochliterarischen Ambitionen wird man sich an das halten, was wie ein Strom durch dieses Buch hindurchgeht: die Rebellion des einzelnen in einer reglementierten Welt des all- seitigen Engagements.

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