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Der Georg-Büchner-Preisträger des Jahres 2002, Wolfgang Hilbig, lotet in seinen Erzählungen Nachkriegsexistenzen aus.

Die hier vorliegenden Erzählungen können gleich- sam auch als biografische Annäherungen an ein Erzähler-Ich verstanden werden: Von den Kindheitserinnerungen an die staubige Straße der Kleinstadt (Ort der Gewitter) bis zu dem Krebstod einer nie erfüllten Liebe namens Marie, deren Tod von der spröden, von den Streitereien bösartig gewordenen Ehefrau, die eigentlich gar keine ist, hinterbracht wird.

"Wir atmeten den Rauch ein, der aus den Rillen und Verwerfungen des Straßenstaubs stieg, wir nahmen die lärmende Stille der Nachmittage in uns auf wie den goldgelben Dunst alchemistischer Schmelzöfen, der uns zwar verjüngte, unseren Gesichtern aber das uralte Grinsen afrikanischer Dämonenmasken verlieh." Mit den Restbeständen der Öfen beginnt dieser Erzählband - mit dem Heizofen eines aufgelassenen Fabrikkomplexes endet er. Schauplatz der Erzählung "Ort der Gewitter" ist hier die kleine Industriestadt M. vor Leipzig. Man ist versucht, jenes Meuselwitz südöstlich von Leipzig zu vermuten, in dem der 1941 geborene Autor Wolfgang Hilbig selbst aufgewachsen ist.

Jugend im Trümmer-Dreck

Die Jungen halten in der Hitze des Sommers unmittelbar nach dem Krieg die Straße "besetzt". Hier ist das Kriegsvokabular noch vollständig internalisiert. Auch die Asche des Hausbrandes wird auf dieser Straße entsorgt. Die Jungen erstarren in diesem Trümmer-Dreck Nachkriegsdeutschlands in Langeweile, sie sehnen sich sogar nach dem Krieg oder zumindest nach dem Gewehr des Großvaters des Ich-Erzählers.

Die Russen sind scharf auf die Uhren, während der Ich-Erzähler Buffalo-Bill-Groschenromane liest. Man liefert sich, den Großen nacheifernd, Scharmützel mit Tonkugeln, die aus einem Gemisch von Erde, Asche und Regenwasser geformt werden. Hier wird lakonisch und schnörkellos die "Ödnis eines unausgegorenen Friedens" beschrieben.

Die Gnadenlosigkeit von Hilbigs Prosa wird höchstens noch unterbrochen von der "unmöglichsten aller denkbaren Badehosen", die die Mutter des Ich-Erzählers gestrickt hat: Die mit Hosenträgern befestigte Strickhose markiert am Rücken ein X, über der Brust ein H: Eine gleichsam symbolträchtige und richtungsweisende Beschriftung des He-ranwachsenden. Hier tauchen bewusstseinsstromartig Erinnerungen auf, keineswegs zusammenhanglos, wiewohl nicht linear organisiert: der Großvater und sein alter polnischer Hass auf die Russen, das selbstständige Erlernen des Schwimmens, das mit der eigenen Entdeckung der Schrift und Verschriftung des nicht anders zu bewältigenden Alltags ein- hergeht: "Dabei hatte es mit dem Schreiben eine ähnliche Bewandtnis wie mit dem Schwimmen: hatte man den Kopf erstmal über Wasser, hatte man erst mit dem Schwimmen begonnen, dann war es unmöglich, wieder damit aufzuhören, bis man endlich den Sand des anderen Ufers spürte." Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass die Männer - so sie überhaupt noch vorhanden sind - die aschstaubige Hitze leichter ertragen, die Frauen sehnen sich nach den Gewittern. Und der Heranwachsende negiert den Schulstoff als Angebot zum Verständnis der Realität: "Physik ... die Entstehung von Gewittern: es interessierte mich nicht im geringsten."

Keine Idyllen

In der Erzählung "Die Flaschen im Keller" werden die Lebensbedingungen eines beginnendenJugend alkoholismus in ihrer ganzen materiellen Bedrängnis beschrieben: da ist von einem "kräuterschnapsbitteren Herzen" die Rede, von "sirupgefüllten Adern" des Ich-Erzählers: "Es gab keinen Tropfen Alkohol, der in mir nicht am rechten Platz gewesen wäre. Was ich erbrechen wollte, war etwas anderes, etwas Imaginäres ... Vielleicht war es eine Erde, die wie ein überreifer Apfel durch die Nacht stürzte."

Schrift als Flucht vor der hereinbrechenden Realität oder die reale Flucht auf eine Halbinsel vor einem Altweiberhaushalt werden in der Erzählung "Kommen" ausgelotet. Auch hier ist der Ursprung der Nachkriegsexistenz die intime Bedrängnis, beinahe gnadenloser als die Bedrängnis durch äußere Lebensumstände. Die Drohung der Frauen, wegen des schlimmen Buben ins Wasser zu gehen, führt nur dazu, dass sich der Junge wie ein Schwein in einem aschehaltigen Wasserbecken suhlt. Hier in dieser Stadt "hat die Vernichtung ihren Fuß auf ihn gesetzt", das Verhängnis M. in Wörter und Sätze zu zerlegen, ist gescheitert, und doch will der Ich-Erzähler wie auch in der Erzählung "Der dunkle Mann" nichts anderes als in M. (bei seiner Mutter): unter einer Lampe sitzen und schreiben.

Der Schlaf der Gerechten

Erzählungen von Wolfgang Hilbig

S.Fischer, Frankfurt a.M. 2003

190 Seiten, geb., e 17,40

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