6773942-1969_14_14.jpg
Digital In Arbeit

Prolog zu einem Drama

19451960198020002020

Der kürzlich verstorbene österreichische Dichter unternimmt hier eine Rechtfertigung seines gesamten Lebenswerkes, einer Botschaft des Humanismus in unserer Zeit. Der Essay fand sich in seinem noch ungedruckten Nachlaß.

19451960198020002020

Der kürzlich verstorbene österreichische Dichter unternimmt hier eine Rechtfertigung seines gesamten Lebenswerkes, einer Botschaft des Humanismus in unserer Zeit. Der Essay fand sich in seinem noch ungedruckten Nachlaß.

Werbung
Werbung
Werbung

Der Mensch ist keine errechenbare Größe.

Die Mythen der Alten haben, zur Form in ihren Tragödien geworden, uns den Menschen als „aller Wesen furchtbarstes“ genannt. Jenes armselige, hinfällige, durch jeden falschen Herzschlag tötbare Geschöpf, „geboren zwischen Kot und Urin“, wie der Kirchenvater sagt, und auch ebenso dahinzugehen bestimmt, erhebt vermessensten Anspruch auf Lust und Macht, reckt das Haupt in die Sterne, deren Gesetze es heute bereits durch Mittel zu stören vermag, denen es weder moralisch noch empirisch gewachsen scheint. In solcher hybrider Maßlosigkeit erkennt uns schon die griechische Tragödie, darin alle unsere Beziehungskonflikte schon vorgedacht und vorgestaltet waren. Dort hießen unsere ins Urhafte gesteigerten Triebe — „Götter“. Aber die lösten sich nun von ihren irdischen Vorbildern und überließen sie ihrer Schuld, die ihnen gesetzten Grenzen wie Tantalos zu verletzen. Damit wurden sie zu Gleichnissen. Die von Psyche und Semele sind uns am nächsten. Psyche verirdischt die Liebe, als sie Amor mit der brennenden Ampel belauscht, sie deckt die Scham seines Herzens auf und muß dafür büßen. Semele begehrt Zeus, der sie nächtens besucht, in seiner wahren Gestalt zu schauen, die gottgewordene Urform des Mannes — und sie stirbt daran. Doch ihr Sohn, die Frucht jenes sträflichen Verlangens nach dem Gipfel des Rausches, ist auch zum Gott jenes Rausches geworden — er heißt Dionysos; und den Sänger Orpheus, der mit seiner Harfe die Bestien bändigt, zerreißen dafür die Mänaden des Gottes, von des Orpheus Mutter geführt — tiefste Mysterien des Chaos im Blute offenbaren sich hier: die Angst vor der Ordnung.

Der ungeheure Einbruch des Christentums mit seiner gewollten Simplifizierung muß jenseits der Offenbarung des Glaubens in einer zynischen Welt als der Versuch gewertet werden, eine Sinngebung des Daseins durch Triebverzicht und damit eine Ordnung zu erzielen. Etwas nach dieser Richtung Weisendes lag freilich schon in den Menschen der Antike; es blieb dort im Heroischen des Opfertodes verfangen, in Anti-gone, in Alkestis, in Iphigenie. Seine Opfer sind durchwegs Frauen — und das trennt ihn von dem christlichen Kreuz, an dem ein Mann starb für Sünden von Männern. Nach dem Bericht des Evangeliums Matthaei bietet sich uns ein Bild jener christlichen Wandlung: Eine Gesellschaft verachteter Zöllner hockt lärmend, würfelspielend und trinkend um den von Wein und Geld glänzenden Tisch. Da zeigt durch die geöffnete Türe eine Hand nach einem von ihnen, nach dem Zöllner Levi — und er steht auf, verläßt die Gefährten, die Seinen im Hause, sein Hab und Gut, und folgt jener Hand: in Not, Gefahr und Martyrium. Solcher Anruf ergeht nicht an jeden — es ist in ihm etwas wie eine Gnade, wenn er einen betrifft. Aber wie keiner der Zechgenossen Levis, so wenig wie jener selbst, der später als Matthäus das Evangelium schrieb, schon merkte, daß sich in ihm ein Blutzeuge verbarg, ebensowenig steht es uns zu, über irgend jemanden zu urteilen, ehe wir wissen, wofür er sich in jener Stunde seines Lebens entscheidet, die nach ihm verlangt — und wäre es erst seine letzte Stupde.

Es gibt Menschen — ich zähle mich dazu — die jenem Anruf gehorchten und nun weiterleben, gezeichnet von ihm. Sie sind in der Hölle gewesen, ob diese Hölle nun eine Wanderung durch den Krieg entlang seiner Fronten war wie bei mir, ob es jener selbst gewesen, in den sie gerieten oder in ein Konzentrationslager. Sie spüren sich dadurch verpflichtet zur dauernden Aussage. Man kann solche Aussagen auf die verschiedensten Arten leisten: die niedrigste, freilich fast unvermeidliche, bleibt die der Politik.

Bei mir wird sie in Dichtung versucht, und darin wieder besonders auf dem Forum des Theaters, im Drama. Meine Stücke münden nahezu alle in Fragen. Denn ich bin gewiß, daß in einer echten Dichtung und besonders in jener der Bühne keine Antwort zu geben ist, sondern vielmehr hat sie die Pflicht, eine bis dahin noch nicht getane Frage in die Welt zu setzen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung