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Religion und Poesie

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Von den Hilfeleistungen und den Vorteilen, die der Dichtung aus der Religion erwachsen, möchte ich drei anführen:

Zunächst gestattet der Glaube an Gott die Lobeserhebung. Das Lob ist vielleicht die stärkste bewegende Kraft der Poesie, da es der Ausdruck des tiefsten Bedürfnisses der Seele, die Stimme der Freude und des Lebens, die Aufgabe jeder Schöpfung ist, in der jedes Geschöpf aller anderen bedarf. Die große Dichtung, von den vedischen Hymnen bis zum Sonnenqesang des heiligen Franziskus, ist ein Loblied. Es ist vorzüglich das Thema der Gemeinsamkeit. Niemand singt allein. Selbst die Sterne des Himmels — so lesen wir in den heiligen Büchern — singen zusammen.

Die Religion bringt uns nicht allein den Gesang, sie bringt uns auch das Wort. Die Religion — die christliche Religion, die katholische Religion (das ist für mich ein und dasselbe) — hat in die Welt nicht nur die Freude gebracht, sondern auch den Sinn. Da wir wissen, daß die Welt nicht das Werk des Zufalls oder blinder, sich tastend suchender Naturkräfte ist, wissen wir auch, daß es einen Sinn gibt. Er spricht zu uns von seinem Schöpfer, er liefert uns die Mittel, sein Werk zu begreifen oder auf alle Fälle ihn zu befragen und ihm unsere Schuld zu bezahlen. Er führt uns auf vielen wunderbaren Wegen zu ihm. Er gibt uns die Mittel, zu fragen und zu antworten, zu lernen und zu lehren, unseren Brüdern Gutes zu tun und das gleiche von ihnen zu erhalten. Ihr seht überall Zweifler und Agnostiker, die, wie halbe Idioten, unfähig sind, auf die einfachsten moralischen oder intellektuellen Fragen zu antworten. Ein Katholik kennt, was weiß und was schwarz ist; er ist imstande, auf jede Frage mit „ja“ oder „nein“ zu antworten, mit einem sehr klaren „Ja“ und einem sehr tönenden „Nein“. All dies ist unschätzbar für einen Dichter und einen Künstler, weil die Skepsis, der Zweifel, das Zögern gerade das tödliche Krebsgeschwür der wahren Kunst ist.

Der dritte Vorteil, den uns die Religion bringt, bezieht sich auf das D r a m a. In einer Welt, in der ihr von keiner Sache das Ja und das Nein wißt, in der es kein Gesetz, weder ein moralisches noch ein geistiges, gibt, in der alles erlaubt ist, wo es nichts zu hoffen und nichts zu verlieren gibt, wo das Böse keine Strafe und das Gute keine Belohnung findet, in einer solchen Welt gibt es kein Drama, da es keinen Kampf gibt, und es gibt keinen Kampf, da nichts da ist, was ihn lohnen würde. Aber mit der christlichen Offenbarung, mit den gewaltigen Vorstellungen vom Himmel und von der Hölle, Vorstellungen, die ebenso hoch über unserem Verständnis stehen, wie der gestirnte Himmel über unseren Häuptern, sind die menschlichen Handlungen, das menschliche Geschick mit einem ungeheuren Werte belehnt. Wir sind fähig, unendlich Gutes und unendlich Böses zu tun. Wir müssen, wie die Helden Homers, durch unsichtbare Freunde oder Feinde geleitet oder irregeführt, durch die erregendsten und unvorhergesehensten Wechselfälle nach Höhen von Licht oder Abgründen von Elend unsern Weg finden. Wir gleichen Schauspielern eines sehr interessanten, von einem unendlich weisen und guten Autor geschriebenen Dramas, in dem wir eine wichtige Rolle innehaben, dessen geringste Ereignisse wir aber unmöglich voraussehen können. Für uns ist das Leben immer neu und immer interessant, da wir jeden Augenblick etwas Neues zu lernen und etwas Notwendiges auszuführen haben. Der letzte Akt ist, wie Pascal sagt, immer blutig, er ist aber auch immer prachtvoll, denn die Religion hat nicht nur das Drama ins Leben gestellt, sie hat an sein Ende im Tode die höchste Form des Dramas gesetzt, die für jeden wahren Jünger unseres göttlichen Meisters das Opfer ist.

(Aus „Positions et Propositions“, II, Editions Gallimard, Paris, übertragen von

Josef Ziwutschka.)

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