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Sie haben die Macht

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SCHULDLOS SCHULDIG. Roman. Von Drissben Hamed Charhadi. Aus dem Englischen Ton Anne Ruth Strausa. Luchterhand-Verlag, Neuwied und Berlin, 1987. 398 Seiten.

Ein junger Araber hat für den amerikanischen Schriftsteller Paul Bowles Episoden aus seinem eigenen und dem Leben seiner Bekannten auf Tonband gesprochen. So ist der erste Roman in maghrebinisch-arabischer Sprache entstanden, den Bowles dann ins Englische übersetzt hat.

Eine fremde Welt tut sich hier dem europäischen und amerikanischen Leser auf. Schicksale von Armen und Beladenen, von Stiefkindern der Gesellschaft, rollen vor seinen Augen ab. Sie werden mit unfaßbarer Geduld und Selbstverständlichkeit getragen, begreifbar nur aus dem islamischen Glauben an ein unabwendbares Fatum, aus der Gewißheit, daß alles, so wie es kommt, „bei Allah beschlossen ist“.

Im Mittelpunkt der Geschehnisse steht der Junge Ahmed, der mit acht Jahren beginnen muß, sein Brot zu verdienen: Als Hirte zunächst, dann als Bäckerjunge, Landarbeiter, Rauschgiftvertreiber, und schließlich als Diener eines weißen Homosexuellen.

Ausgeliefert seinem Stiefvater, den er nur „der Mann meiner Mutter“ nennt, hin und her gestoßen von denen, die Gewalt über ihn haben, wehrt Ahmed sich kaum je gegen sein Los, trägt es mit Anstand und Würde. Schlimm sind die Zeiten, in denen er keine Arbeit findet, und sie sind die Regel. „Es gab keine Arbeit. Niemand arbeitete, und niemand aß ...“ Ähnliche Sätze wiederholen sich in der Geschichte. Diese Situation treibt Ahmed auf die Straße, läßt ihn stehlen, um seinen Hunger zu stillen: das endet dann meistens

mit dem Gefängnis. (Es ist besser im Gefängnis zu sein, als wie jetzt auf der Straße...“)

Wirklich ein Leben voller Fallgruben, in dem die Hilflosen ausgebeutet und mißbraucht werden von denen, die glücklicher sind als sie. („Sie haben die Macht. Sie tun, was sie wollen...“)

Selten begegnet Ahmed Freundlichkeit und Verständnis. Einen alten Juden, den er im Gefängnis trifft, vergißt er sein Lebtag nicht, einen, der sich noch weniger zu helfen weiß als er selbst und für den er gegenüber den brutalen Aufsehern und Mitgefangenen mit viel Zivilcourage eintritt.

Alles was hier erzählt wird, ist von einer unserer westlichen Literatur verlorengegangenen Schlichtheit. Einmal, als Ahmed aus dem Gefängnis kommt, empfängt seine Mutter ihn voller Freude:

„Allah sei Dank, daß du da bist! Möge er dich nie mehr dorthin zurückkommen lassen!

Meine Mutter sprach weiter, ein Wort nach dem anderen, und sie war glücklich.

,Es war alles geplant und geschrieben vor langer Zeit', sagte ich zu ihr. .Alles, was zuvor geschrieben wurde, das muß in Erfüllung gehen.'

Warte, warte nur ein wenig. Allah wird dir helfen. Du mußt Geduld haben', sagt sie ...“

Geduld statt Aufbegehren, Sich-Abfinden statt Anklage, und warten, immer warten auf eine bessere Zeit — so wird das harte, bittere Leben gemeistert.

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