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Sinn des Widerspruchs

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Wenn ein Schriftsteller, noch dazu ein erfolgreicher, seine Uberaus fruchtbare Tätigkeit — Mauriac schrieb 26 Romane — über ein Jahrzehnt hinaus einstellt, so wird man seinem schriftstellerischen Comeback größere Aufmerksamkeit schenken, als dies sonst üblich ist. Mauriacs neuer Roman schlug jedenfalls ein, in Frankreich wurden mehr als 130.000 Exemplare des „Jünglings Alain“ (im Originaltitel „Un adolescent d'autrefois“) verkauft, die Kritiken sparten nicht mit enthusiastischen Begrüßungen des der Welt wiedergeschenkten Autors.

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Wenn ein Schriftsteller, noch dazu ein erfolgreicher, seine Uberaus fruchtbare Tätigkeit — Mauriac schrieb 26 Romane — über ein Jahrzehnt hinaus einstellt, so wird man seinem schriftstellerischen Comeback größere Aufmerksamkeit schenken, als dies sonst üblich ist. Mauriacs neuer Roman schlug jedenfalls ein, in Frankreich wurden mehr als 130.000 Exemplare des „Jünglings Alain“ (im Originaltitel „Un adolescent d'autrefois“) verkauft, die Kritiken sparten nicht mit enthusiastischen Begrüßungen des der Welt wiedergeschenkten Autors.

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Mauriac empfing den Impuls zu diesem Werk möglicherweise aus dem Erlebnis der Pariser Maiunruhen, eine Aktualisierung der Bezugnahme auf das politische Geschehen in Frankreichs heißestem Sommer fehlt aber gänzlich, so daß es dieses Hinweises bedürfte, um darin eine auf die jüngsten Ereignisse gemünzte Auseinandersetzung mit dem Generationskonflikt zu sehen. Eine Jugend, die aus dem Wohlstand kommend, ihre geistige Situation mit Hilfe von Soziologen, Politologen und deren politischen Ablegern zu bewältigen sucht, bleibt dem greisen Schriftsteller außer Reichweite, wohl aber regt ihn das Problem der Anarchie zu einer Parabel an, die ebenso heißen könnte: vom Sinn aller Widersprüche, vom Sinn des Widerspruchs der Autorität, vom Sinn des Widerspruchs der Revolution, vom Sinn des Widerspruchs der Religion. Und da Mauriac es sich leisten konnte, ein Einsamer zu sein, scheinen auch diese Tagebuchblätter eines Jünglings, der alt wird, etwas von einsamer Anciennität umflort, ledcht vergilbt, aber vielleicht gerade deshalb umso haltbarer. Ein Roman, der um 1914 spielt, Jugend um 1914 schildert, eine Erinnerung daran, wie es gewesen ist. Mauriac beschreibt den Widerstand eines Sohnes gegen seine Mutter, gegen eine scheinbar unbarmherzige Gesellschaftsordnung, nicht aber gegen deren falsche Religiosität (wie der Spiegel in Nummer 26 zu interpretieren sich bemüßigt fühlte). Das Phänomen Religion bleibt bei Mauriac außerhalb jeder von der Gesellschaft zu bestimmenden Verhaltensweise etwas, das das Geheimnis der ganz bestimmten Lebensform eines Menschen ausmacht. Er beläßt diese Religiosität der zärtlich-tyrannischen Mutter Alains ebenso wie dem stürmisch aufbegehrenden Jüngling, dem pseudointellektuellen Priesterstudenten Simon ebenso wie dem alten Dechanten.

Die Religion wird nur, hineingestellt in eine dem Religiösen sich mehr und mehr entfremdende Gesellschaftsordnung — hier hat Mauriac tatsächlich 50 Jahre übersprungen — etwas völlig Unverständliches, etwas im letzten Absurdes, das den Menschen wie eine wahnwitzige Herausforderung erscheinen muß, eine Herausforderung, die auch ' den religiösen Figuren in diesem Romanwerk verschlossen bleibt, mit der sie nichts anzufangen wissen. Erst als sie das Leben zu einem Moment der Klarheit führt, sind sie imstande, diese Herausforderung anzunehmen, im Moment des Scheiterns, der Sinnwidrigkeit, die geplante und inszenierte Aktionen, Gestelltes, Gewolltes und Zufälliges im Lauf eines Lebens wie Spielkarten durcheinandergeraten läßt.

Alain kämpft gegen die ihm von Kindheit an bestimmte Braut und damit gegen die Gesellschaftsordnung in ihrer überlieferten Form. Das traditionelle Bild der Familie repräsentiert, wie in anderen Erzählungen, die gehobene Gutsbesitzerfamilie in der Provinz, die ihren Platz durch Jahrhunderte innerhalb der dörflichen Gemeinde als privilegierte Schicht hält und als festes Erbe von Generation zu Generation weitergibt. Alain kämpft also gegen die ihm vorbestimmte Frau, die er „Le Pou“ (die Laus) nennt, aber als er sie verliert, beginnt er sie zu lieben. Er kämpft um Marie, seine um vieles ältere Gehebte, aber als er sie gewinnt, beginnt er sie bereits wieder zu verlas^ sen. So scheint das Entscheidende im Leben nicht das Radikale der Wende, sondern das Weiterschreiten, das mit jeder Bewegung, die Zeit und Raum im Gleichklang ausmißt, im Geschehen selbst seinen Sinn erfährt. Eine Antwort an die revolutionäre Jugend? Sicher nicht. Aber vielleicht einer der letzten Versuche, religiöses Leben mit den Mitteln erzählender Sprachen zu deuten.

DER JÜNGLING ALAIN von Fran-gois Mauriac, Verlag Fritz Molden. 271 Seiten, S 135.—.

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