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Starke Seelen?

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Die starken Seelen. Roman. Von Jean Ciono. Deutsch von Richard Her re. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln-Berlin. 329 Seiten. Preis 16.80 DM

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Die starken Seelen. Roman. Von Jean Ciono. Deutsch von Richard Her re. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln-Berlin. 329 Seiten. Preis 16.80 DM

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Von den zwei „starken" Seelen dieses Romans ist eine schwach und nachgiebig, man kann sie in Fetzen zerreißen; die andere aber ist bis an die Zähne bewaffnet. Denn „stark“ sein heißt hier; umgetrieben sein von einer Leidenschaft.

Da ist Madame Numance, eine reiche und vornehme Dame, die sich mit Vehemenz zugrunde richtet. Sie spendet Wohltaten und Geld, weiß genau, daß sie betrogen wird, weiß, daß man ihr das Letzte nehmen wird, aber sie liefert sich aus. gerät in die Hände von Halsabschneidern und sieht den Tag voraus, an dem sie, bettelarm, verschwinden muß. Doch widerstehen kann sie nicht, weil sie leiden will, liebend leiden. Es ist eine Lust in ihr zum Vernichtetwerden.

Die andere ist das Gegenteil. Sie ist für das Quälen eingerichtet. Sie will herrschen, unterdrücken, nehmen, behalten, entreißen, andere in die Enge treiben und fügsam machen. Sie sitzt wie ein Frettchen vor dem Bau der Kaninchen: ihre Lust geht aufs Vernichten aus.

Die beiden fanden sich und der Verlauf war vor- auszusehen. Sie wurden wie kommunizierende Röhren; der einen Aufstieg wurde der anderen Untergang. Aber so konnte beiden geholfen werden, denn jede bekam, was sie wollte. Frau Numance ging lächelnd zugrunde, die Bauernmagd Therese aber fand ihren Genuß und Triumph.

Das alles kommt während einer bäuerlichen Totenwache zur Sprache und Therese ist dabei nun 90 Jahre alt geworden. Aber diese Vettel versteht sich noch immer aufs Bluffen und erzählt eine rühr- same Geschichte von sich und kann das Mogeln nicht lassen. Zwei andere aber wissen längst - Bescheid, und was Therese verschweigt, das ergänzen sie deutlich und ohne sich von den Märchen der Alten abseits führen zu lassen. Gegen das Ende hin wird dann über Therese zu Therese gesagt: „Sie war eine starke Seele. Aber nicht aus der Tugend gewann sie ihre Stärke und die Vernunft diente ihr zu nichts ... Denn was die Kraft ihrer Seele ausmachte, war, daß sie ein für allemal eine Fährte gefunden hatte, der sie folgte. Von Leidenschaft verführt, hatte sie so große Pläne gemacht, daß diese den ganzen Raum der Wirklichkeit ausfüllten ... Die Wahrheit galt ihr nichts. Nichts galt ihr außer dem: die Stärkste zu sein und frei ihre Herrschaft ausüben zu können."

Das also ist es, was Giono eine „starke Seele" nennt. Man wird anderes erwartet haben. Hier sind die Triebe stark, von keinem Geist gebändigt. Man lasse sich vom Titel also nicht zu weit verführen. Man hat hier Menschen vor sich, die im Gefälle ihrer Natur bleiben, und, soweit es Therese betrifft, einen Menschen, der eiskalte Augen hat und ein eisenhartes Herz. Der Roman ist ein uferloses Gespräch, das über 300 Seiten hinweggeht. Der Gewinn ist aber etwas mager und die früheren Romane Gionos waren mir lieber. Er weiß noch immer, wie man schreibt, aber nun schreibt er zu routiniert und die bäuerliche Sprache ist mit Bildungsfetzen durchsetzt. Die Neigung zu romanesken Sentiments hat sich verstärkt, die Schau der Landschaft aber ist flauer geworden. Er hat sich dem mehr angepaßt, was man in Paris Literatur nennt, und das ist in diesem Fall ein fragwürdiger Fortschritt. Den alten Giono findet man nur auf den ersten hundert Seiten und dann nur noch hin und wieder. Leider.

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