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ÜBER DEN ROTEN TEPPICH SCHREITEN

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Das rußige Aroma schmeckt nach Erwartung und Ferne, doch in den milchigen Schwaden verweht auch eine gewisse Nostalgie über den Schienen. Der zünftige Eisenbahnfreund, der Lokomo- phile möchte man sagen, weiß genau, auf welchen Bahnhöfen heute noch Dampfloks zu finden sind. Dort schnuppert Doktor Alfred Niel genießerisch den raren Rauch und beäugt mit scharfen Blicken die Strecke. Denn Dr. Niel ist Eisenbahnhistoriker.

„O bitte, nur als Hobby“, wehrt der höfliche Vierziger (Jahrgang 1919) bescheiden ab. „Vielleicht wurde meine Neigung besonders kultiviert, weil ich in nächster Nähe des Wiener Westbahnhofes aufgewachsen bin!“ Das Leben an einem großen Schienenstrang scheint irgendwie prägend einzuwirken, wie das Leben an einem Strom. Immer sind die Geräusche gegenwärtig, besonders in den föhnigen Nächten, das Zischen, die Pfiffe, das Rasseln beim Rangieren, der Rhythmus der anrollenden Züge

Alfred, der Gymnasiast begann zu sammeln: Bilder von Lokomotiven und Trains, alte Fahrpläne, Modelle. Das war Mitte der drei ßiger Jahre. Für den Maturanten hieß es allerdings bald „Umsteigen“: auf Panzer. Doch die Liebe zur Eisenbahn überdauerte Krieg und Gefangenschaft. Als Staatswissenschaftler und Schüler August Maria Knolls dissertierte Niel über ein Thema, das seine persönliche Interessensphäre berührte: die soziologische Umschichtung durch die neuartigen Verkehrsmittel des 19. Jahrhunderts. Seit der Promotion ist er hauptberuflich im Sozialversicherungswesen tätig.

Daneben verläuft auf der Schmalspur der Freizeit die Trasse der geistigen Privatinitiative. „Mit den rein technischen Einzelheiten befasse ich mich viel weniger als mit den kultur-- geschichtlichen Aspekten der Eisenbahn." Den vielfältigen Zusammenhängen zwischen dem Lauf der Züge und dem Ablauf des Zeitgeschehens geht Dr. Niel nach, mit der Gründlichkeit eines Mannes, der historische Studien zu betreiben versteht und dazu mit der Einfühlung in Geist und Milieu vergangener Epochen begabt ist. Eine wahre Wünschelrutengängerfreude grundiert die Stimmung solcher Explorationen zwischen den Geleisen der Zeiten.

„Vor allem bietet das Verkehrsarchiv des Haus-, Hof- und Staatsarchivs eine herrliche Fundgrube, denn dort ist der Bau jeder österreichischen Bahnstrecke aktenkundig genau festgehalten.“

Niel, der grundgescheite Homo Ludens, der auch ein echter Homo Austriacus ist, begeistert sich natürlich — wie könnte es anders sein? — für Herzma- novsky-Orlandos „Kaiser Josef und die Bahnwärterstochter“,

jene Phantasmagorie der puttengezierten Barock-Lok und der „erbländischen“ Weichensteller.

Seriöse Bestandsaufnahme, fingiert mit Scherz, Satire, Ironie und viel tieferer Bedeutung,

kennzeichnet auch die fachlichen Arbeiten, die Alfred Niel bisher veröffentlichte. So lieferte er zum Beispiel für ein in Deutschland erschienenes originelles Werk „Der Rote Teppich — Die Geschichte der Hofzüge und Salonwagen" die Beiträge über Österreich, Ungarn und den Vatikan, sowie einen Aufsatz über die Nobelgarnituren des

Bahnwesens, die Roman- und Drehbuchautoren inspirierten. „Der Luxuszug als markanter Bereich der Lebenskultur des

19. Jahrhunderts wurde in Europa noch kaum entsprechend gewürdigt. In Amerika, wo ja fast jeder Millionär mindestens seinen Salonwagen hatte, beschäftigte man sich intensiver damit. Letzten Endes ist der Salonwagen ein richtiges Interieur und ein Seitenthema der Innenarchitektur“, sinniert der schnurrbärtige Gentleman-Loko- mephile. Es mag so manche Antiquitäten geben, über deren Provenienz man sich den Kopf zerbricht. Dabei stammen sie vielleicht aus einem rollenden Appartement

Der Sympathie für das brave alte Dampfroß, der Hinwendung zum qualmenden Idyll verdanken einige Monographien über österreichische Bahnen ihre Entstehung. Niel liebt die humanen Züge leicht musealer Züge. „So eine kleine alte Bahn kann man irgendwie menschlich betrachten, eine schnittige Elektrolok ist da viel unpersönlicher.“ In diesem Zusammenhang tritt er sehr entschieden für den Denkmalschutz technischer Bauten ein, auch als aktiver Otto-Wagner-Fan. „Die Stadtbahnstationen? Unbedingt erhalten!" Ob man ihn wohl bis zum Rathaus hört? Gerade stößt eine Dampflok laut zischend weißes Gewölk ins Blau

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