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Vaslav Nijinsky — der große Tänzer

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Vaslav Nijinsky — ein Unvergessener. Unvergessen war und bleibt er für diejenigen, die ihn jemals tanzen gesehen. Vaslav Nijinsky. Ein Name, der vor dem ersten Weltkrieg in ganz Europa und auch in Uebersee mit Bewunderung ausgesprochen wurde. Einen Tänzer gleich ihm hatte es bis dahin nie gegeben; und bis in unsere Tage ist ihm kein Gleichrangiger gefolgt. Aber auch kein zweiter mußte sein grausames Schicksal durchleben. — Nijinsky, 1890 geboren, umfing, kaum 28jährig, die Dunkelheit des Wahnsinns, in der er 33 Jahre ausharren mußte, bis ihn endlich der Tod befreite. Während dieser drei Jahrzehnte geriet er nie in Vergessenheit. Zu groß war die Zahl der Bewunderer gewesen, die nun, gemeinsam mit der aufopfernden Hilfe seiner Frau, dafür sorgten, daß es dem Kranken an nichts fehlte. Selbst nach seinem Tod riß die Kette der Bewunderer nicht ab; auf französische Staatskosten wurde seihe Leiche von London nach Paris gebracht, um dort beerdigt zu werden.

Wenn Nijinsky in „Le spectre de la rose” durch das offene Gartenfenster auf die Bühne hereinschwebte, um sie am Schluß des Balletts ebenso wieder zu verlassen, nachdem er noch vorher in einem einzigen Sprung die ganze Breitseite der Szene überflogen hatte, dachte man wirklich, einen fliegenden Geist gesehen zu haben. In der, Kulisse aber standen vier Männer, die mit ącht gekreuzten Händen den Tänzer auffingen, während der Masseur eiligst den Körper Nijinskys abrieb und sein Herz massierte. Seine Sprünge waren so einmalig, daß viele behaupteten, sein Sprunggelenk müsse anders geformt sein als das der anderen Menschen. Und gerade diese atemraubenden Sprünge verachtete Nijinsky. „Je ne suis pas un sateur, je suis un artiste”, konnte man oft von ihm hören. Daß er ein Künstler war, zeigte er mit dem „Petruschka”, zeigte er mit seiner Choreographie zu „L’aprės midi d’un faune”, den er durchweg im ägyptischen Stil, also gänzlich im Profil tanzen ließ. Er selber tanzte den Faun und glich mehr einem jungen fchönen Tier als einem Menschen. Die größten Schauspieler der damaligen Zeit, eine Sarah Bernhardt, ein .Luden Guitry reisten dem Tänzer nach, nur um seinen Petruschka öfter sehen zu können. Petruschka, die Puppe mit der lebendigen Seele, wurde Nijinskys Lieblingsrolle. Er empfand für sie eine Art Wesensver- wandtheit, und die Musik, die manche alte russische Volkslieder brachte, verstärkte dieses Gefühl. Nijinsky hatte schon früher den „Feuervogel” von Strawinsky aus der Taufe gehoben, bei Petruschka aber sprach ihn die Musik des Meisters noch stärker an. Ihm war die Gabe geschenkt, die Musik so stark zu erfühlen, daß sein ganzer Körper, jeder Schritt, jede Geste die Eigenheit des jeweiligen Komponisten auszudrücken vermochte. So tanzte er zum Beispiel nach Chopins Musik seinen Part in dem Ballett „Les Sylphides” voll zarter Anmut, mit sanften, slawisch langsamen Gebärden. Oft gewann man den Eindruck, wenn Nijinsky nach einem Sprung den Boden berührte, er sei schon wieder im Begriff, ihn zu verlassen, so gewichtlos schien sein Körper zu sein. Die schwierigsten Sprünge nahm er ohne jegliche Vorbereitung, die sonst jeder Tänzer brauchte. Wie ein Wunder wurden seine zehn Entrechats bestaunt, denn niemand konnte mehr als sechs, allerhöchstem acht bewältigen.

Der Bildhauer Auguste Rodin wollte nach Nijinskys Gestalt einen .David, ähnlich der Skulptur von Michelangelo, formen. Mit der Arbeit wurde auch begonnen, aber leider konnte sie nie beendigt werden, da der Tänzer zu oft von Paris abwesend war. — Während einer Vorstellung am Mariinsky-Theater, der kaiserlichen Oper in St. Petersburg — man gab das Ballett „Giselle” -, kam es wegen des Kostüms, das Nijinsky trug, zu Unstimmigkeiten. Dieser Vorfall bewog ihn, das Theater und Rußland zu verlassen und sich ganz dem russischen Ballett von Diaghilew anzuschließen. — Sergei de Diaghilew besaß die seltene Gabe, Talente aufzuspüren, junge Künstler heranzuziehen. Mit der Zeit bildete sich ein ganzes „Team” um ihn. Komponisten vom Rang eines Debussy, Strawinsky, Ravel schrieben für das Ensemble Ballette. Leo- nid Bakst, A. Benois schufen die Bühnenbilder. Der junge Cocteau dichtete „Le Dieu bleu”, und Fokin war der geniale Choreograph. Dirigenten wie Pierne, Monteux, Ansermet brachten die neuen Werke zu Gehör. Eine Pawlowa, Karsa- vina waren Mitglieder des Tanzensembles, und trotz erhöhter Preise, damals eine Seltenheit, glichen die Tourneen einem wahren Triumphzug. Die größte Anziehungskraft bedeutete aber der Name Nijinsky.

Man schrieb das Jahr 1910; für ein westeuropäisches Publikum wirkten die bisher unbekannten russischen Künstler wie ein exotischer Zauber. Dies galt besonders für Nijinsky, ihn umgab ein Hauch von Geheimnissen, denn von seinem Alltagsleben wußte man so gut wie nichts. Nie, daß er mit Kollegen gemeinsam ausging, nie zeigte er sich bei Einladungen, dip zu Ehren des Ensembles gegeben wurden. Bei den Kollegen war er beliebt, da er. eher still und freundlich war, nur machte sich manchmal eine gewisse Geistesabwesenheit bemerkbar. Fast in jeder Stadt besuchte er die Bildersammlungen, und die Zeichnungen von Dürer und Holbein in der Albertina in Wien sprachen ihn besonders stark an. — Er beurteilte den Charakter eines Menschen an der Art, wie er sich bewegte, ging, setzte. Lange beschäftigte er sich mit dem Versuch, ein Notensystem, ähnlich dem eines Klavierauszugs mit Singstimme, für den Tanz auszuarbeiten. Damit wäre die Möglichkeit gegeben’gewesen, Tanzübungeäi, ja ganze Ballette ohne Hilfe eines Choreographen, sei es wo immer, in ihrer Originalfassung aufführen zu können. So dachte er; ja es schien ihm gar nicht übertrieben, den Nobelpreis dafür erringen zu können. Seine Krankheit setzte dem allen ein Ende.

In dem Ballett „Scheherezade” von Rimskij- Korssakow tanzte Nijinsky einen Negersklaven, der am Schluß getötet wird. Nur um diese Schlußszene sehen zu können, zahlten viele den doppelten Eintrittspreis. Nijinsky, der, dunkelbraun geschminkt, eine goldene türkische Hose, ein schmuckbesetztes Goldband um die nackte Brust trug, große Goldringe in den Ohren, dazu ein Tuch um den Kopf gewunden, glich einer Gestalt aus „1001 Nacht”. Faszinierend und zugleich exotisch wirkte sein Liebestanz mit Scheherezade, und als ihn das Soldatenschwert durchbohrte, schnellte er gleich einem Fisch in die Höhe, überschlug sich, es flimmerte wie Gold in der Luft; und ebenso plötzlich, das Gesicht dem Boden zugewandt, lag er ausgestreckt da Noch einige Schauer ließen den Körper konvulsivisch erzittern, dan war es endgültig vorbei. Der Vorhang fiel darnach sofort, und jedesmal war es vollkommen still im Zuschauerraum. Um so vehementer erdröhnte dann der Applaus.

Der Krieg überraschte Nijinsky in Wien. Er hatte inzwischen das Diaghilew-Ballett verlassen, hatte geheiratet und fand sich nur schwer in die Rolle eines „feindlichen Ausländers”. Krieg, Töten, vereinte sich schwer mit seinen humanistischen Lebensanschauungen. Seine üb y- aus sensitive Natur litt mehr, als ihr zuträglich war. Obwohl er in der Villa seiner Schwiegermutter, einer großen ungarischen Schauspielerin, lebte und obwohl er von den Behörden in Budapest in Ruhe gelassen wurde, ertrug er nur mit Mühe die aufgezwungene Untätigkeit. Mit Hilfe einflußreicher Freunde gelang es Ende 1915, ihn, seine Frau und das zweijährige Töchterchen auf dem Wege eines Austausches freizubekommen. Der Weg ging direkt nach New York an die Met, wo unter seiner Anleitung der „Till Eulenspiegel” von Richard Strauss aufgeführt wurde. Nijinsky tanzte den Till, und wieder wurde die Todesszene als Besonderheit angesehen. Diesmal aber nicht durch die berühmten Sprünge, sondern durch eine ergreifende schauspielerische Ausdrucksfähigkeit. Die sich daranschließenden Tourneen brachten Erfolg, brachten aber auch Müdigkeit, Erschöpfung. Und als Amerika in den Krieg trat, ging es wieder einmal nach Europa zurück, in die Schweiz, nach St. Moritz. Eine Villa wurde gemietet, Nijinsky begann, um die Zeit auszufüllen, zu malen. Seltsame, beängstigende Wesen, Alpträume waren da zu erblicken. Manchmal übte er noch seine Entrechats, aber der nagende Gedanke an das Kriegsmorden verließ ihn nie und beschleunigte die in ihm sich vorbereitende Krankheit.

Noch einmal wollte er tanzen. Er lud in das nahgelegene Suvrettahaus mehr als 200 Gäste, es sollte, wie er sagte, „seine Hochzeit mit Gott” sein. Er kaufte Stoffe, Seide in allen Farben, viel Seide, und legte sie auf den Boden, legte die Stoffe um sich und sagte zu den geduldig Wertenden: „Ich will zeigen, wie wir leben, wie wir leiden und wie wir Künstler schaffen.” Und er nahm einen Stuhl, setzte sich en face zum Publikum und starrte es an; lange, sehr lange. Dann ließ er die Saaltüren öffnen, damit die Angestellten ebenfalls hereinkämen. Und dann endlich, nachdem die verängstigte Pianistin zaghaft zu präludieren begann, ahnungslos, was sie spielen sollte, begann Nijinsky zu tanzen, alles wild durcheinander, unabhängig von der Musik, und trotzdem war es beängstigend schön. Dann setzte er zu seinen Sprüngen an — den Zuschauern verschlug es den Atem — und hörte ganz plötzlich auf, indem er sagte: „C’est pour le peuple.” Von diesem Tag an wurden die hellen Momente in seinem Leben seltener, seine Zwiesprache mit Gott immer häufiger.

Im März 1945 flüchtete das Ehepaar Nijinsky vor den Russen über die ungarische Grenze nach W’ien. Im Hotel Sacher fanden sie Unterkunft. Dort erlebten sie den Endkampf und die Besetzung der Stadt. Nijinsky durfte bleiben, Russen wie Engländer ließen ihn in Ruhe im Hotel Sacher wohnen. Da saß er nun im Hotelzimmer, durch sein Fenster sah er die ausgebombte Seite der Oper, er hatte Hunger und verstand nichts von allem. Mit Gleichmut nahm er alles hin, nur einmal, als der Hunger zu arg nagte, hieb er mit einem Faustschlag die dicke Marmorplatte des Tisches (der im Zimmer stand) entzwei. Da nahm ihn seine Frau, die er immer wiedererkannte und bei der er sich am sichersten fühlte, bei der Hand und führte ihn in die Halle des Grandhotels, das die Russen beschlagnahmt hatten. Dort wohnten zu der Zeit drei berühmte russische Tänzer, die gerade in Wien ein Gastspiel absolvierten. Romola Nijinsky ließ sie rufen, und als sie hörten, daß „der Gott des Tanzes” - so wurde er oft genannt — lebt und nicht, wie sie angenommen hatten, schon längst gestorben sei, begannen sie zu weinen, betasteten ihn, küßten seine Hände und umarmten ihn. Vaslav ließ alles lächelnd geschehen, und reich mit Eßwaren bepackt, ging das Ehepaar wieder zurück in sein Hotel.

Im Jahr 1950 ist Nijinsky in London gestorben. Was sterblich an ihm war, wurde nach Frankreich übergeführt. „Nun ruht er”, schreibt Serge Lifar, „auf dem Friedhof Montmartre, wo schon unser großer Vestries begraben ist, mitten in dem Paris, wo er Freude und Jubel erlebt hatte.”

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