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Nachruf auf eine tragische Tragödin

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Zuerst tauchte sie auf wie ein Komet, und man sprach viel von ihrer Erscheinung, von den Lautgebilden, von den Klangkompositionen ihres jungen Mundes. Man sprach in Gesellschaft und in Kunstrubriken der Zeitungen von ihr. Ihr Bild wurde vervielfältigt, Goldkragen und Kragenlose kauften es, trugen es mit sich herum. Man lud sie zu Tee und Souper, man respektierte in ihr die vornehme Dame, die sie war. Wenn sie zu dem glücklichen Verdauungszustand des Verehrerkreises ein Gedicht nachservierte, entschwebte der letzte Wirklichkeitsrest.

Dieselbe säuselnde Verneigung, die Anbeter und Anbeterinnen ihr entgegenbrachten, besaß sie für die Dichter, als deren Dienerin sie sich fühlte. So theatralisch ihr Auftreten war, ebenso theaterfern war ihr Wesen. Sie war ohne Koketterie und Selbstgefälligkeit. Sie erschien immer wie auf Kothurnen und trug auch außerhalb der Bühne am liebsten Gewänder, die einer Toga verwandt waren. Um die Stirne lag meist ein goldener Reif. Gewiß, ihre Liebe galt den großen Dramatikern der Vergangenheit, deren unsterbliche Stärke in Dünndruckausgaben in ihre blassen, aber knochigen Hände gekommen war. Auch alte Balladen, bei denen List, Dolch und Tod plötzlich aus den Kulissenstrophen springen, erhielten ihr Leben durch ihren bewegten Atem, den noch ihr geliebter Lehrer eingeteilt hatte. Sie bebte von einer Erschütterung zur andern, die Existenz ihrer Freude schien nur in diesem dramatischen Wortgebirge zu wachsen, alles andere versank für sie.

Ihre absichtliche Verachtung des Geschäftlichen, ihr bloßes Gerichtetsein auf künstlerischen Genuß führte sie bald dahin, bald dortffin. Nirgends war sie beständig. Das unruhige und nicht geordnete Erfassenwollen der ganzen Welt entzog sie bald dem Theater, sie fand das Podium bequemer, denn man konnte es überall und ganz nach momentanem Wunsch erreichen und besteigen. Und dramatisch kann man auch ohne Dekorationen und Requisiten sein, wenn die Kraft des entlassenen Wortes in die Wüste des Raumes die Visionen des Geschehens setzt.

Nachdem sie Jahre hindurch Glück und Unglück der Menschen auf den verschiedensten Versfüßen durchmessen hatte, kam zu ihr — die schon hinter Jugend und Reife stand — die Liebe. Und sie kam (wie hätte es anders sein können) auch auf Versfüßen. Ein Mann vom Land, Besitzer eines Dorfidylls und unendlich vieler Bäume mit Äpfeln, Pflaumen und Tannenzapfen, erklärte ihr seine gereimte Verehrung, legte ihr mehrere Dramen und einen dicken Band Balladen, alle ungedruckt, aber in Leder gebunden, neben die griechischen Sandalen. Es waren seine eigenen Werke. Sie nahm die Liebe, so wie es sich wohl gehört, ebenfalls als gewaltige Erschütterung auf und verließ die glatten Podien der Städte, schloß einen Dauervertrag mit dem liebenden Mann und folgte in den kleinen Kreis von Gutsherrn, Dorflehrern und Dorfpfarrern.

Durch viele Jahre verschwand sie, man hörte kein Wort von ihr, und nur wenige wunderten sich darüber oder dachten an sie. Doch auf einmal tauchte sie wieder auf. Nur auf ein paar Tage und verschwand wieder auf längere Zeit. Dann kam sie öfter, wenigstens zweimal im Jahr. Sie zog nicht mehr dahin und dorthin, sondern kam immer wieder in dieselbe Stadt. Niemand wagte es, nach ihrem Manne zu fragen und sie sprach nicht von selbst. Vielleicht war er gestorben.

Sie versuchte, sich das Theater zurückzuerobern. Nur ein einzigesmal gelang es, für einen einzigen Abend, doch mit großen Opfern. Sie kehrte zum Podium zurück, und jedes Jahr erschien sie einmal in ihren theatralischen Gewändern, mit ihrem alten Lieblingsrepertoire, mit einer wie in Krämpfen zuckenden Innerlichkeit. Der Saal war niemals schlecht besucht, aber es spielte sich jedesmal eine schmerzliche Tragödie ab, von der sie nichts wußte, nichts merkte und nichts erfuhr. In den allerersten Reihen saßen ihre Verehrer und Anbeterinnen von einst. Sie waren wiedergekommen, als sie auftauchte, und sie hatten ihre Erinnerungen auch mitgebracht, sie schwelgten im Zurückgenießen versunkener Stunden, sie sahen sich in ihren ehemaligen Toiletten und Jugendgefühlen, in Erwartung und Spannung, sie nährten den Genuß von heute mit dem von ehemals. Für diese sprach auch die Münstlerin, für diese allein stand sie oben und ihre kurzsichtigen Augen reichten glücklicherweise nicht weiter.

Aber auch die in den ersten Reihen wußten nichts von dem, was hinter ihnen vorging. Weiter hinten saß die wirkliche Jugend, Jugend aus verschiedenen Schulen. Sie wünschte sich immer die jungen empfänglichen Menschen, sie hatten ihr einst viel Beifall gebracht, und darum verteilte sie jedesmal Karten unter sie. Sie kamen, doch ihre Teilnahme war anders, als sie es dachte. Während sie ganze Dramenakte abrollte, die männlichen Stimmen mit tiefen Krafttönen bis in die letzte Galerie hinaufpreßte, während sie in Schmerz zerschmolz und in Todesgefühlen zerknickte, krochen die Burschen mit ihren Köpfen hinter die Sessellehnen hinab, konnten sich vor Gelächter und stechendem Gekicher kaum beherrschen, entluden am Schluß ihre explosive Heiterkeit in demonstrativ übertriebenem Applaus. Sie merkte davon nichts und erschien mit unsicheren zittrigen Füßen immer noch einmal auf dem Podium, um sich für die Anerkennung zu bedanken, sie strahlte vor Glück. Die Burschen ließen sie sehr oft herauskommen.

Diese Tragödie wiederholte sich durch mehrere Jahre. Dann kam die Nachricht von ihrem Tod. Sie hatte ein langes Testament hinterlassen, ihren Besitz, ihr Landgut und alles, was sie hatte, der Schauspielervereinigung ihrer Heimatstadt vermacht. Ihr letzter Wunsch war, in dem Ort ihres ersten Triumphs begraben zu werden. Sie hatte sich feierliche Zeremonien zurechtgelegt, die sie erfüllt sehen wollte, ein Chor sollte am offenen Grab sprechen, und als Schönstes erwartete sie eine Abschiedsrede, gehalten vom Vorsitzenden der Schauspieler. Sie sah ihn auf Kothurnen in griechischer Kleidung mit schweren Gesten vor sich.

Aber all das geschah nicht. Das Testament wurde viel später eröffnet, und die Schauspieler, die davon erfuhren, konnten sich nur mehr bei einer Versammlung von ihren Sitzen erheben. Sie war in ihrem Dorf begraben worden, der Pfarrer hatte am Grabe gebetet und mit den Worten geschlossen: Sie ruhe in Frieden! Darauf eine Handvoll Leute mit dunklem Murmeln: Amenl (Aber mit falscher Betonung.)

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