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Die Schlange im Orpheum

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War das der kupferrote Schal, der sich von den schwingenden Schultern seines Freundes, des Shitar -spielers, löste und dann auf dem Teppich schillernd zu ringeln begann? Er sah nochmals hin: eine echte Natter schlang den Knoten zu Füßen des Inders. Jetzt, da sich sein Partner herrisch in seinen Rhythmus versteifte, indessen er durch eine ebenso geschmeidige wie ausdauernde Widersetzlichkeit ihn zu entkräften hatte, schien es ihm, als glitte die Schlange zu ihm herüber. Ihr Zischeln, elektronisch zugespitzte

geringerem Erfolg, denn für wen bedeutete hier das Ausgleiten auf einem Flageolett ebensoviel wie der Sturz vom Seil?

Gern hätte der Direktor auf die Zugabe verzichtet, aber schon hatte der Knabe den Bogen auf die Saite gesetzt. Es erklang eine Melodie. Die Rhythmen eines anderen Kontinents hatten zwar an Europas Tore gepocht, aber noch behielt — ebenso in einer Schaubude wie im Weihefestspielhaus — das Melos in all seinen Ab- und Unarten die prägende Gewalt. Das Vorstadtvolk lauschte der Klage und vergaß über deren tapferen Ernst den Flammenspeier und Schlangenbeschwörer. Sollte es einer Trauer in Dur gelingen, was der Virtuosenakrobatik verwehrt blieb?

Aus dem Halbrund des Zeltes wurde eine Gemeinschaft, die vor Staunen, ja vor Mitempfinden nicht mehr zu atmen wagte: Zu Füßen des geigenden Kindes ringelte sich eine Kobra. Sie erhob ihren Latz und wiegte sich in melodischen Kreisen. Ihr Leib bog sich einverständig in die schwingende Ordnung einer viel-gliedrigen Welt. Darin also gipfelte die Zirkusnummer! Und wenn auch niemand daran zweifelt, daß sich die Schlange wohlgeübt ins Konzertduo geselle, so wagte doch keine Hand zu klatschen und mit wirrer Schlagmechanik das kleine Ungeheuer aufzuscheuchen, das nun mit zufriedenem Nachgenuß die Tonschwingungen in den Sinuskurven seines Leibes verebben ließ.

Der Knabe verbeugte sich. Vor ihm die schweigende Arena, ein dunkles Maul, noch unentschlossen, ob es das Publikum verschlucken oder ausspeien sollte. Erst bei dieser Verbeugung wurde Oljescha des Reptils ansichtig, das zu seinen Füßen auf die Partnerschaft mit ihm nicht verzichten wollte. Die Geige entfiel seiner Hand. Mit einem Aufschrei stürzte er hinaus. Die dünne Knabenstimme löste in der tausendköpfigen Menge das Geheul aus. Denn sie hatte sofort begriffen: zirkusgerecht durfte die Nummer so nicht abbrechen. Als Zaungast hatte sich das Reptil hereingeschlängelt. Augenblicklich waren die Wärter mit dem Käfig zur Stelle. Dieser Anblick unterband die Panik, zähmte die Aufregung zur Neugierde, mit der man nun verfolgte, wie die Entschlüpfte zurückgeholt wurde.

Über Nacht glückte der musikalischen Kobra und dem zuversichtlichen Zirkusdirektor, worum sich Kunstkritiker oft jahrelang abmühen: Oljeschas Geige gehörte fortan zum guten Ton. Nun überwachte der Vater mit dem Silberstift anstatt mit dem Schusterhammer die Reinheit der Lagenwechsel.

Was jedoch der Zirkusabend mit seinem tödlichen Ernst wirklich bedeuten wollte, dies zu begreifen, bedurfte es eines Lebensweges von vier Jahrzehnten und einer neuerlichen Androhung: mitten in dem Galakonzert mit dem gefeierten Shitarspieler entschlüpfte dem Käfig der Erinnerung abermals das starr-äugige Reptil: Oljescha, kennst du sie nicht mehr, diese Melodie, mit der du mich damals geködert hast? Wie habe ich mich damals im Lauschen gesättigt an der lilienweißen Trauer einer Asphodelosweise in der Unterwelt. „Ach, ich habe sie verloren, all mein Glück ist nun dahin. So klage ich jetzt selber, klage wie du, Orpheus, um Eurydike, das Opfer meines Schlangenbisses.“

Jetzt, da sich Oljescha auf die Gluck'sche Arie und die glückbringende Mitwirkung der Schlange besann, auf das Zirkuspublikum, das, ohne jemals zuvor von Rätter Gluck und Orpheus berührt worden zu sein, ihm, dem Knaben, in der Sanftmut der schwingenden Luft Zaubermacht zugetraut hatte, packte ihn die Gewissensangst. Hatte er seinen Auftrag nicht verraten? Wozu noch dieses komplizierte Fingerballett anstatt einer schlichten Handreichung? Über vier Jahrzehnte hinweg schlug der Zirkus seine Zeltstäbe wieder in dem Konzertsaal auf. Die Kobra, vorerst kürbisbäuchig auf dem Gewächsteppich des Dschungels, rich-

tete sich nun empor, bedrohte mit dem metallisierten Glanzhals der Shitar den Atemraum. Wohin sollte er mit seiner Geige noch flüchten? Das Zeitalter des idealisierenden Klanges war zu Ende gegangen. Tonangebend waren wiederum die Tiere mit Schnäbelschmatzen, Bälgeplu-stern, Pfotenscharren. Musik wurde geschwänzelt und ertrampelt, denn keines der Werkzeuge tierischer Tonerzeugung blieb ungenützt. Von den schwelenden Klangdünsten wollte er zurück zur kristallischen Sphärenharmonie des Pythagoras fliehen, doch er tanzte ja wie die Schlange des Wohlstandsparadieses pfiff. Vertauscht waren die Rollen. Er spielte nicht mehr, er wurde gegängelt. Die Schlange holte ihn als Shitar unter die Botmäßigkeit ihres vorweltlichen Matriachats. Preisgegeben unterlag die Geige, das Instrument Apolls, dem Klangbauch der Monstren. Wie konnte er sie, die Verletzliche, vor dem elektronisch verstärkten Schnarren einer Schuppenhaut erretten?

Später wußte sich Oljescha nicht mehr zu entsinnen, wie dieser indische Raga auf dem Podium seinen Abschluß fand, wie er, die geigenspielende Marionette, von den weitausgreifenden Armbewegungen des Shitarspielers gehalten wurde. Ihm blieb der Blick ins Publikum erspart und zugleich dessen Verwunderung über den großen Virtuosen, jetzt nur noch eine dünnwandige, zerbrechliche Hülse, angefüllt mit fremder,

brandroter Erde. Hinweg von diesem Teppich! Fort von den leise ziehenden Schwaden der Räucherstäbchen. Zum ersten Mal verleugnete er nicht mehr, daß die Stradivari ihre F-Löcher verzog, um sich — Nichtraucherin, die sie war — dem hin-duistischen Opferdunst zu entziehen. Trotzdem litt sie nach jedem Zusammenspiel mit dem Magierkollegen an Heiserkeit. Erst nach ausgiebigem Kurgebrauch von Bach- und Vivaldi-Inhalationen kehrte ihr europäisches Frequenzband strahlenrein wieder.

Noch an diesem Abend mußte die Umkehr beginnen. Entgegen seiner Gepflogenheit, sich jedermann bereitwillig zu öffnen, stahl sich Oljescha nach dem Konzert sofort davon. Erst in seinem Hotelzimmer, dem tapezierten Nachtfutteral für reisende Generaldirektoren, konnte er seiner aufgestauten Erregung endlich freien Lauf lassen. „Ach, ich habe sie verloren ...“ Aber wen? Er vermochte es nicht zu sagen. Und

wie auf der Suche nach dem Verlorenen öffnete er den Doppelkasten: der organische Glanz einer Feuerlilie leuchtete aus der Guarneri, der Bienensommer summte aus der Stra-divari.

Im Samt des Kastens aber lächelte — über beide Instrumente hinweg — das Bild seiner Frau. Auch sie war ihm ja nicht verloren, obschon sie in den letzten fünf Jahren — seitdem er einem Völkerbund der Musik zustrebte — nicht mehr gemeinsam mit ihm konzertierte und selbständig ihren Weg einschlug. Sie belächelte die Mühen, welche sich die Chefköche um den Ohrenschmaus gaben. Unkrautjäten, umstechen wollte niemand. Deshalb unterrichtete sie in einer ländlichen Musikschule. Nur keine Virtuosen, nur keine Jugend, die allzu früh von der Pflicht des Geltenmüssens ausgehöhlt wird. Ihr ging es darum, Gutwilligen ein Handwerk beizubringen; ein Werk der Hand, ein Fingerspiel, das mitten in die Seele hineingreift, in die eigene und in die der anderen. Wie groß hatte ihn das Leben beschenkt! Trotzdem quälte ihn das Leid des Verlustes. Ihm war keine Eurydike entzogen worden, aber der Verlust selber hieß Eurydike. Warum sie zurückholen? Warum ihr das Nirwana nicht gönnen, in dem sie ruhte? Warum die Schönheit, die sich von den Atemflecken der Menseljen erlöst hat, nochmals in die Vorläuflgkeit aller Erscheinung zurückzwingen? Ebenso wie die Geige war jede Vollendung mit dem Fluch beladen, alle Kraft für sich zu verlangen, damit von neuem entstehe, was schon einmal war. Wehe aber, wenn sich der Künstler, der allabendlich mit splitterfasernackten Händen zu kämpfen hatte, solchem Kleinmut hingab! Denn der Klein-

mut ist die Bresche, durch welche der Glaube der Gegner, der blindwütige Wahn der Angreifer, in eine alte von Zweifeln zermürbte Feste einbricht.

Oljescha nahm die Feuerlilie aus dem Kasten. Hier umfaßte er alles, was er einmal hinterlassen würde: Gemeinsam mit dem Schwingungsrückstand so vieler toter Vorbesitzer steigerte die Schwingung seiner eigenen Fingerkraft den hölzernen Behälter von Luft zur lebendigen Empfindsamkeit. Trost bedeutete für ihn, einige Töne zu schöpfen aus dieser Gemeinschaft der Lebenden und der Toten.

Der späten Stunde und der Schläfer des Hotels wegen, stülpte er den Dämpfer über den Steg: nur einige Griffe auf dem Holz, das ihn durch ein Meer von Mühsal hindurchgeflößt hatte, noch einige rettende Griffe, ehe auch dieser treue Begleiter von der Sintflut erfaßt werden würde. Wem der Auftrag des

Abschieds von einer Epoche zufällt, der wisse auch um sein Vorrecht, dem Jüngsten Tag noch zu Lebzeiten das Volkslied zuraunen zu dürfen:

Es blies ein Jäger wohl in sein Horn allweil bei der Nacht, und alles, was er blies, das war verloren.

Alles, was er geigte, war verloren: echte Verlorenheit des Spielers und alles Klingenden, das unaufhörlich über die Schwelle des Verklingens gehen muß, damit sich Tongestalt entwickle. Warum suchen wir Halt am Anhaltenden? Nur im Unaufhaltsamen, im rasch Vergänglichen öffnet sich wie aus Versehen ein Spalt ins Geheimnis.

Dankbar legte Oljescha die Guarneri ins Etui, die Türe öffnete sich zaghaft. Im englischen Matrosenanzug stand der indische Knabe, der Sohn des Shitarspielers, vor dem persich gekleideten Oljescha. Bei dieser letzten Umkehr der Rollen war das Kind nicht imstande, die wohl vorbereiteten englischen Sätze über die Lippen zu bringen. Noch ein vergeblicher Versuch, dann hob er den linken Arm, als läge im Daumenring ein Geigenhals. Mit dem rechten Arm zog er große Auf-und Abstriche. Diese Geigengymnastik beförderte auch seine Sprechfähigkeit: „Mein Vater hat es erlaubt: Ich — ein Geiger wie Du.“

Eine Botschaft der Versöhnung — aber der Bote war die verlorengeglaubte Eurydike.

Zeichnung: Schumich (1976)

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