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Vor dem großen Abstieg

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„Wir bitten Dich, allmächtiger Cott: siehe gnädig herab auf Deine Familie, lenke durch Deine reiche Gnade ihr leibliches Leben und durch Deine Obhut schütze ihr geistiges Leben.“

(Kirchengebet vom 1. Passionssonntag.)

Ein merkwürdiger Zeitpunkt für ein solches Gebet: Jetzt, da der ernsteste und konzentrierteste Teil der Fastenzeit, die Passionszeit, beginnt, die unmittelbar bis zum Heiligen Triduum der Ostermysterien andauern wird (eine eigene Karwoche kennt die Liturgie ja nicht). Und gerade jetzt ein Gebet um Gnade für das leibliche Leben, das ja nach landläufiger Meinung in der Fastenzeit in den Hintergrund treten soll? Und doch gibt es vielleicht ein Fastenverständnis, das gerade zu diesem Gedanken hinführt. Wie ist denn das eigentlich mit uns? Sind wir still genießende Prasser, die die Speisen gleichsam auf der Zunge zergehen lassen und die nun durch das Fasfengebot von den Tafelfreuden und Gelagen aufgeschreckt werden sollen, wie etwa der wackere Herr „Jedermann" vor dem Salzburger Dom? Oder ist nicht das, was uns am stärksten an die irdischen Güter fesselt, etwas im Grunde Quälendes, Schmachtendes: Die Sorge vor einem gähnenden Nichts, das uns erwartet, wenn wir auch nur einen Augenblick lang in der allgemeinen Jagd nach Standsicherheit auszulassen wagen? Das ist es doch, was uns mit „klammernden Organen’ testhält. Wir sind ja gar keine sinnlichen Genießer und Epikuräer mehr. Wir trauern nicht um die entgangene Gaumenlust, aber wir werden nervös bei dem Gedanken, daß uns die nötigen Vitamine und Nährstoffe fehlen könnten, ohne die wir unsere Leistungsfähigkeit, unsere Lebenssicherheit verlieren. Wenn wir stets geneigt sind, uns selbst von den gelinden Fasten- und Absfinenzgeboten unserer Tage selbst zu dispensieren, so tun wir dies nicht, weil wir dem Herrn einen heimlichen Naschgenuß abluchsen wollen, sondern weil wir uns eine solche zeitweilige Leistungsminderung nicht ᾠ leisten können. Und doch heißt Fasten nicht zuletzt ein freiwilliges Sichaussetzen, Selbstpreisgabe, Bereitschaft zum Loslassen. Die orthodoxen Juden in ihren östlichen Gemeinden von einst begingen den Anfang ihres großen Versöhnungstages mit einer Art Sterberitual. Vierundzwanzig Stunden völligen Nahrungsverzichtes bedeuten ja für viele Menschen die leichten Schauer der Entkräftung, die mit dem wirklichen Hungertod einhergehen. Wer also in diesen Tagen nicht nur symbolisch- liturgisch, sondern sehr real bereit ist, sich im Mitvollzug des Todesmysteriums ganz „auszulassen’, es in Gott, den Begrabenen und Auferstandenen, „hineinzuwagen", der hat das Recht, ein Gebet um Schutz zu sprechen. All das, was man für ein paar Tage zu verlassen bereit ist, dennoch in die Hut des Allerhöchsten zu stelleni Den ganzen ersten Fastensonntag, sehr viele Texte im wiederkehrenden Sfundengebef der Fastenzeit kennzeichnete ja bereits der 90. Psalm, das erschütternd-vertrauensvolle Abendgebet der Kirche, das in mächtigen Bildern den Schutz des Allerhöchsten preist. Wer in dieser Passionszeit freilich nicht bereit ist, auch nur ein Stück der eigenen Sicherheit, des eigenen „fit’-Seins dran zu wagen, für den ist ein solches Gebet sinnlos und unverständlich. Er braucht den Hüter des leiblichen Lebens nicht anzurufen. Er sorgt schon selbst für diese Dinge und denkt nicht daran, das Fasten etwa so zu „übertreiben", daß es auch nur die geringste Gefahr mit sich bringen könnte. (CIbrigens raten ja auch die meisten modernen Andachtsbücher von solchen „überholten Praktiken" der Vergangenheit ab, und man ist also von vornherein entschuldigt.) Der aber, der wenigstens dem Willen und der inneren Bereitschaft nach in diesen Tagen den Abstieg antreten will, der weiß, wie sehr er sich einem Schirmherren anvertrauen muß: Als einzelner wie als Glied jener Familie, als die sich die Kirche in ihren Gebeten bis hinein in die Stundenliturgie der Karfage jetzt, da sie sich um das Kreuz versammelt, mehr und mehr versteht.

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