6536854-1946_20_09.jpg
Digital In Arbeit

Wandlungen im Sowjetfilm

Werbung
Werbung
Werbung

Vor etwa fünfzehn Jahren durfte die Sowjetunion für sich in Anspruch nehmen, mit S. M. Eisenstein und W. Pudowkin über die vielleicht besten Filmregisseure der Welt zu verfügen. Deren Verdienst war ein zweifaches: Sie gingen bis an die künstlerische Vollendung des Stummfilmes als bildhaft-rhythmischer Stoffgestaltung und schufen gleichzeitig den Film der proletarisch-revolutionären Gesinnung, geboren aus dem Aufstand der leidenden Klassen. Alle Kunst war nur Dokumentation des Geistes der

Oktoberrevolution, die Filmtechnik wuchs zum Kunstausdruck dieser Haltung.

Die Stoffe waren meist der jüngsten Vergangenheit oder der Gegenwart entnommen, die Zuschauer hatten aMes noch in Wirklichkeit miterlebt oder waren doch wenigstens ferne Zuschauer gewesen. Eine Vorführung etwa von „Oktober (Zehn Tage, die die Welt erschütterten)“ oder

Sfent „Encle rem 9t. Petersburg* —- MefRer-leistungen der genannten Regisseure — bedeutete Mitleben nnd noch einmal Erlebe für den Zuschauer. Er begriff, warum diese Geschichte gerade diese Wendung nahm. Pudowkins „Sturm über Asien“, den die Gesellschaft der Filmfreunde jüngst wieder zeigte„ ist ein Musterbeispiel für diese Art mitreißender Revolutionsfilme.

Die Umstellung zum Tonfilm brachte wie in der übrigen Welt die Rückkehr zum verfilmten Theater, man konnte und kann noch immer nicht genug bekommen vom reichlichen Dialog, der an Wirkung hinter der durch die Stummfilmtechnik erzwungenen Monumentalität des Bildablaufes und weniger Zwischentitel oder Bildtitel zurückbleibt. Die geistige Abhängigkeit vom Theater und Theatralischen zeigte sich als Folge einer nicht gebändigten Technik. Es war deutlicher denn je, daß der Film der demütigste Sklave seiner Technik ist.

Dazu kam, daß die Isolierung des Sowjetvolkes von der übrigen Welt zur Stummfilmzeit sich in der lapidaren Prägung ihrer Geistigkeit unabhängig und originell entwickeln konnte. Mit dem Tonfilm traf auch der Anfang zur internationalen Zusammenarbeit ein, wie Völkerbundarbeit oder Lieferungsverträge mit den USA. Der Sowjetfilm amerikanisiert sich mit der Einführung von Happy-End und sonstiger gutmütiger Illusion. So kann man etwa in einem Film aus einem hypermodernen Hotelzimmer auf den Roten Platz in Moskau hinuntersehen wie aus einem riesigen Wolkenkratzer; der Held des Filmes tragt den ersehnten weißen Pullover mit Rollkragen und die Filmhcldin ist blendend aufgemacht. In Erinnerung an die revolutionäre Zeit ist der traditionelle Filmschuft noch mit Frack und Zylinder ausgestattet, bezeichnenderweise ist jedodi das Beste an diesem Film — „Zirkus“ — der Chaplin-Imitator, Überrest der glorreichen Stummfilmzeit.

Bedeutsamer als diese immerhin äußerliche Wandlung ist die Änderung der Motive. Als vor etwa zehn Jahren „Peter der Große“ erschien, horchten wir auf. Der Zar liegt im Kampf mit den hochmütigen Bojaren, er ist volksverbunden, mischt sich unter die einfachen Leute und ist wie einer von ihnen, holt er sich doch seine Frau aus ihrem Kreise. Der Zar Peter ist ein großer Revolutionär, aber nicht aus Protest. Er revoltiert gegen die Unterdrücker seiner Heimat aus Liebe zum russischen Volk. Es ist gewiß nur eine Akzentverschiebung. Aber Akzentverschiebungen machen Geschichte. (Als Metternich nicht „Habsburg“ sagte, sondern „Heilige Allianz“, hat er gewiß auch seinem Herrscher gedient, aber einen europäischen Frieden gesichert.) Den wenigen, die den Film „Peter der Große“ damals sehen konnten, ist er daher auch in lebendigster Erinnerung geblieben.

„Iwan der Schrecklich e“, der schon in der Stummfilmzeit seine große Darstellung gefunden hat. mag in erster Linie als Kampf zwischen Vater und Sohn aufgefaßt werden. Der nun laufende „S u-w o r o w“ (von W. Pudowkin) ist jedoch ein Gedenken an den großen Heerführer aus dem Volk, dessen erste Liebe seiner Heimat gilt und der, was bemerkenswert ist, gegen das revolutionäre Frankreich nach 1789 kämpft, das freilich schon von der Gestalt des kommenden Diktators überschattet wird.

Mit der Begründung des Patriotismus nicht mehr aus dem Protest gegen eine doch schon untergehende bürgerlich-kapitalistische Welt, sondern aus den Wurzeln einer unbefugten Heimatliebe ist wieder ein Schritt des die aufgezwungene Isolierung sprengenden russischen Volkes deutlich gemacht. Man hat verschiedentlich versucht, die Abkehr von der ursprünglichen revolutionären Haltung dem neueren russischen Film als Schwäche anzukreiden. Dies ist ein Fehlurteil. Die Abnelgung gegen die kapitalistisch orientierte Welt ist in jedem Film noch spürbar, sie ist aber schon selbstverständlich geworden. Aber aus dem Protest ist eine sichere Fundierung in den Instinkten und Sehnsüchten des kleinen Mannes geworden, der nun einmal seinem Boden verhaftet ist und sein Stück Land mit seinen Träumen sieht. Die mit der Völkerbundideologie begonnene Neuorientierung zu anderen Völkern hat durch das Ergebnis des letzten Krieges eine ungeahnte Stärkung erfahren und der Vorstoß eines sich innen konsolidierenden Staatswesens gegen die Völker im Westen der alten Grenze findet seine Sicherheit im neu erworbenen Sinn seines Patriotismus. Dr. Arnulf Hesse.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung