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Weder links noch rechts

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ENSEMBLE, LYRIK, PROSA, ESSAY. Sonderband des Jahrbuchs „Gestalt und Gedanke“ der Bayrischen Akademie der schönen Künste, herausgegeben von Clemens Graj Podewils und Heinz Piontek. Oldenburg Verlag, München 1969. 267 Seiten. DM 12,80. .

Die Bayrische Akademie der Schönen Künste hat ihr Jahrbuch „Gestalt und Gedanke“ in einer neuen Form herausgebracht, gleichsam in einer Art Buchzeitschrift, unter dem Titel „Ensemble“. Eine Versaimimlung von Dichtern, für die es weder links noch rechts, Ost oder West, auch keine Landesgrenzen gibt. Amerika, England, Frankreich, Italien, Rußland, Polen, Ungarn, Tschechoslowakei sind auf diesem Boden versammelt, der selbst auch nicht in Ost und West getrennt erscheint. Die Initiative und der zentrale Beitrag stammen von Mitgliedern der Akademie, die alle anderen, denen sie sich in Sympathie verbunden weiß, um sich vereint. Erstdrucke von Lyrik, Prosa und Essay aus der Feder Becketts, Ungarettis, Jacottets, Herberts, Wos-nessenskijs, um nur einige zu nennen, versammeln sich um den deutschen Kern: Aichinger, Bienek, Piontek, Holthusen, Kaschnitz, Kro-low, auch nur einige Namen für viele andere. Als Herausgeber zeichnen der Generalsekretär der Akademie, Clemens Graf Podewils, und der Lyriker Heinz Piontek. Also eine repräsentative Ausgabe? Jawohl, insofern sie bekannte Namen der Gegenwartsliteratur zitiert, aber mehr hoch — das erste allein wäre zu wenig — insofern sie eine Art Literatur repräsentiert, die sich, jenseits von Moden und Doktrinen, der Sprache, ihrem nicht manipulierten und manipulierbären Wort verpflichtet weiß, „daß in einem uralten Anspruch auf eigenständige Welterkundung und Wahrheitsfindung seine Wurzel hat“, wie es die Herausgeber ■formulieren. „Es herrscht • aber das Standrecht der Sprache u^eP Altern Sprechen und überführt uns“ (Piontek). „Wir prüfen einzelne Laute wie unzerreißbare Fäden zwischen den Zähnen“ (Pavlovic). „Spielregeln aus Grammatik und Versmaß, das pflngstliche Wunder zu erneuern“ (Auden). „Vernimm, wie das Wort vollendet, was es sagt. Fühl, wie das Wort zu dem wird, was du bist. Und sein Sein wird doppelt ■das deine“ (Rene Char), das ist die

innere Leitlinie, die auch durch zwei Essays von Krolow „Zur deutschen Lyrik heute“ und Podewils „Sprachnot“ nachgezeichnet und durch die Antrittsrede Holthusens als Präsident der Akademie „Aussichten einer Akademie in dieser Stunde“ vertreten wird. Die Herausgeber sind sich bewußt, daß sie damit dem heutigen Literaturbetrieb, dem ideologischen, revolutionären wie artistischen, ein Ärgernis setzen. Verflossene Romantik, Reaktion, Borniertheit usw. wird man ihnen vorwerfen. Das stört sie nicht Arroganz und Unduldsamkeit sind immer Ausdruck von Nervosität bis Unsicherheit trotz aller verbalen Schnellfeuer, kombinatorischen Wechselbalgereien und fanatischen Einseitigkeiten. Die beiden Studien über Alexander Solschenizyn (Bienek) und Stanislaus J. Lee (Dedecius) zeigen, wo das „Ordnungsprinzip der Sympathie“ zu finden ist und wo die Kräfte liegen.

„Poesie ist der letzte, wahrscheinlich

auch der erste, hauptsächlich aber der letzte Versuch der Eingliederung von Zeit und Raum, von Schicksal und Welt in die Ordnung des Denkens. Poesie entsteht dann, wenn nichts anderes mehr übrigbleibt. Poesie ist der letzte Schritt des Menschen zum Menschen und zu den Menschen“, sagt der Tscheche Miroslav Holub, der bezeichnenderweise als Wissenschaftler an einem Forschungsinstitut arbeitet Wer erinnerte sich nicht an Kafkas Tagebuchnotiz: „Manchmal scheint mir überhaupt das Wesen der Kunst, das Dasein aller Kunst allein erklärbar als Ermöglichung eines wahren Wortes von Mensch zu Mensch.“

Die Sprache ist in Not trotz oder gerade wegen aller Redseligkeit von Politikern, Revolutionären, Wissenschaftlern und Literaten. In diese Bedrängnis der Sprache werden wir durch diesen Band hineingezogen, um die Sprache wiederzufinden; und darin erblickt auch die Akademie in dieser Stunde ihre Aussichten, wie sie Holthusens Rede glänzend und schlagfertig entwirft, und darin findet auch dieser Band seine eminente Rechtfertigung, dem noch zahlreiche folgen mögen, hoffen und wünschen wir.

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