Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Der Aderlaß des Jahres 1938 wurde erst 1945perfektioniert
Vor kurzem starb in Wien der Komponist Marcel Rubin. Was verband ihn mit dem Maler und Grafiker Georg Chaimowicz, mit Stefan Zweig oder mit Richard Katz, dem Reiseschriftsteller und Tierliebhaber, der auch über Hunde schrieb und dessen Bücher noch in vielen großelterlichen Bücherschränken stehen? Oder mit dem bedeutenden Graphiker Axl Le-skoschek? Oder mit dem heute als erfolgreicher Schriftsteller und Journalist in Buenos Aires lebenden Alfredo Bauer?
Sie verbrachten, gern oder weniger gern, aber unfreiwillig, als Flüchtlinge vor Hitler einen mehr oder weniger großen Teil ihres Lebens in Lateinamerika. Sie kehrten nach dem Krieg früher oder später oder gar nicht heim. Das Buch „Wie weit ist Wien” (Picus Verlag) vereinigt viele Lebensgeschichten - die der noch Lebenden, sie kamen als Kinder oder junge Menschen ins Exil, und die der Toten.
Einmal mehr wird die selbstschädigende Komponente der Nazi-Ideologie deutlich. Sich der Toten und Vertriebenen zu erinnern, ist nicht nur Akt der selbstverständlichen, aber in diesem Land, von vielen Menschen, aber auch von der Politik, jahrzehntelang verweigerten Pietät. Wir werden dabei auch den Verlusten konfrontiert, die Gesellschaften, die einen Teil ihrer Mitglieder vertreiben, sich selber zufügen. Osterreich erlitt 1938 einen geistigen Aderlaß und versäumte nach der Befreiung die Chance, die Folgen zu verringern. Kleingeistigkeit und nichtnazistzi-scher Antisemitismus (davon hatten und haben wir eine Menge!) verhinderten den Aufruf an die Geflohenen, heimzukehren. Man hatte Angst, die „Emigranten” könnten Wohnungen und Nahrung wollen - und sah nicht, auf wieviel fachliche Kompetenz, Kreativität, Energie, internationale Erfahrung und nicht zuletzt Patriotismus man verzichtete.
Das Buch hat den Untertitel „Lateinamerika als Exil für österreichische Schriftsteller und Künstler”. Viele bewährten sich aber in ganz anderen Berufen. Allein die Journalisten -ihre Anwesenheit hätte nach 1945 dem Absinken eines großen Teiles der österreichischen Presse in einen grauenhaften Provinzialismus entgegenwirken können. Den Dirigenten Erich Kleiber - nur als Beispiel - wollte Österreich nach dem Krieg nicht mehr. Seine Heimkehr wurde verhindert. Er war nur einer von 12.000 Österreichern, die in Lateinamerika Zuflucht fanden. In Österreichs Zeitungen las man nach 1945 aber immer nur vom Tirolerdorf in Brasilien.
Ein gutes, wichtiges, sorgfältig gemachtes Buch. Mit kompetenten Texten, einigen glänzend geschriebene-nen Erlebnisberichten und vielen Porträtfotos vom verlorenen Österreich.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!