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Der Stein

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Aristide, ein junger Franzose, hatte als Knabe die Gewohnheit, sooft er einen längeren Weg antrat, einen Kieselstein bei sich zu tragen. Aber nicht, uro einen Riesen damit zu fällen, wie weiland David mit der Schleuder, trug Aristide seinen Stein im Sack. Nein. Sondern zu einem ganz anderen Zweck.

Wenn er müde wurde, so müde, daß er kaum noch hoffen durfte, sein Ziel zu erreichen, holte er ihn hervor und warf ihn mit der ganzen Kraft und Kunst seines Armes eine Strecke vor sich hin, die er solcherart und mit dem Arm sinnbildlich also schon bewältigt hatte, im voraus, ehe noch seine Füße einen Schritt getan. Nun war der hübsch gesprenkelte Stein sein Lieblingsstück, ja ein Stück von ihm. Er mußte ihn um jeden Preis wieder haben. Mithin blieb ihm nichts anderes übrig, als ihn, als «ich selber einzuholen. Und so, Teilziel um Teilziel gewinnend, kam er, Sieger über sich selbst, zu guter Letzt doch dorthin, wohin er wollte oder sollte.

Diese an sich löbliche Gewohnheit, mit der er seine Ausdauer und seinen Willen in Zucht nahm, behielt Aristide Doumier auch als Erwachsener bei, wenngleich er sie nun auf eine geistigere Art übte. Aristide schritt von Erfolg zu Erfolg. Und das dadurch, daß er sich gleichsam immer ein Stück vorauswarf, sich ein Stück vorauslog. Witzig und amüsant, versteht sich. Ein soeben erst Geplantes und noch Werdendes gab er kurzerhand als schon erreicht und vollendet aus, auf diese Weise sich selber zwingend, es nun wirklich zu erreichen und zu vollenden; denn jetzt konnte er nicht mehr zurück.

Aristide schritt von Erfolg zu Erfolg. Es gelang ihm so, der ursprünglich nicht fiel mehr besessen hatte als seinen Stein, daß er zunächst ein überaus tüchtiger . und begehrter Lädenschwengel wurde, dadurch ein schaffiges Weib, eine rührige Witwe, für sich gewann, dadurch deren Geschäft mit errang, dadurch bald zu seinem eigenen Haus kam, und schließlich noch zu eigenen Kindern. Ja, er hätte es nach und nach gewiß zum Deputierten und zu einer ansehnlichen Rente schon um die Vierzig gebracht, hätte sein Ehrgeiz sich im Bürgerlichen als dem ihm Gemäßen und Möglichen beschieden.

Jedoch, es wurde sein Verhängnis, daß er sich, um Ruhm zu gewinnen, mit den Künsten einließ, sich demnach auf ein Gebiet begab, das er nur mit dem Willen und mit einigen Mätzchen und einem gefälligen Schnurrbärtchen allein nicht bis zum guten Ende meistern konnte. Seine gewiß beachtlichen provinziellen Lorbeeren auf der Liebhaberbühne seine» Heimatstädtchens verführten ihn, sich frisch und froh zum Schauspieler hinauf-und nach Paris vorauszulügen. Er mußte nun wirklich dorthin und in einem ziemlich abseitigen Musentempel, der nicht sehr angesehen war, sogar auftreten. Er tat das mit einigem Erfolg, schwarz auf weiß, was sich auch noch richten ließ, ihn jedoch neuerlich schweres Geld kostete. Indes, Ruhm erwarb er trotz heißester Mühe nicht im Rampenlicht und bei den Schminktöpfen, wohl aber die Bartflechte (wenn es nichts Schlimmeres war), und mit dieser kam er denn, abgebrannt, ein Schiffbrüchiger, Geknickter, um vieles einsilbiger wieder heim in seine Gas-cogne.

Daheim aber verlor er go, seines inneren Schwerpunktes verlustig, erst die Liebe, dann die Achtung seiner Familie und der Mitbürger, da er sich vernachlässigte; das Haus, dei! Kaufladen, da er sie vernachlässigte; er sank, entmündigt, von Stufe zu Stufe, wie er der-einst Erfolg um Erfolg erzielt hatte. Ja, das Schlimmste war, daß er, verwirrten Geistes, mit einer wahren Lust am Unglück seinen Fall auf ähnliche Weise beschleunigte, wie er ehedem seinen Aufstieg vorangetrieben hatte.

Zuletzt besaß er, ein alter, müder, einsamer Stromer, wieder nicht viel mehr als seinen Stein, den er aber auch an einem frostigen, unfreundlichen Frühlingstag, nachdem er lange, listig lächelnd, vor einer frisch ausgehebenen Baumgrube am Straßenrand gehockt war, ahnungsvoll und gleichsam «ich selbst voraus in die Erde versenkte. Aristide kam denn auch nicht mehr weit. Er ist bald darauf im nächsten Flecken gestorben. Unweit von Tarascon, der Heimatstadt des Tartarin.

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