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Es kam ihm auf die Perspektive an

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DIE CHINESISCHE MAUER. IX. Band der Werk Ton Karl Krau*. Herausgegeben von Heinrich Fischer. Albert-Langen-Georg-Müller-V erlas, München-Wien, 1664. 300 Selten. Frei 24.80 DM.

„Die chinesische Mauer“ ist (neben „Sittlichkeit und Kriminalität“) die zweite Sammlung von Aufsätzen, welche Karl Kraus noch selbst redigierte und die noch zu seinen Lebzeiten fünf Auflagen erreichte. Karl Kraus in Ehren! Wer wagte auch heute etwas gegen ihn zu sagen? Es wäre auch unsinnig. Doch ihn als „Inkarnation des Absoluten“ zu bezeichnen, hätte ihm, der das Wort beim Wort nahm, wahrscheinlich wenig gefallen. Es mag als erster Eindruck einer unmittelbaren Begegnung mit ihm verständlich sein, doch heute in Distanz so zu tun, als ob das für die ihm einzig zustehende Würdigung in Frage käme, würde wohl eindeutige wie diskutierbare Grenzen überschreiten. Er selbst gibt diese Grenzen an, wenn er sich als „Satzsteller“ bezeichnet, der „schreiben können“ von „recht haben“ unterscheidet. Nichts ist der Satire „egaler“. Der Funktionscharakter der Personen und Sachen wird gesehen, sie werden als Anlässe getroffen, aber nicht gemeint, sie werden beschädigt, und dürfen sich nicht beklagen. Es geht ihm daher weniger um die Beziehung zwischen Wort und Inhalt, als vielmehr um die zwischen Wort und Wort.

Auf die „Perspektive“ kommt es dem Satiriker an. Das geht so weit, daß es heißt: „Als stärkster Erschwerungsgrund galt mir immer, daß einer nichts dafür gekonnt hat.“ Das macht einerseits seine Größe aus. An Kleinigkeiten und Belanglosigkeiten macht er die allgemeine Verantwortungslosigkeit sichtbar, die oft ans Ungeheuerliche grenzende Amoralität einer Moral, die zum Formalismus erstarrt ist, wie zum Beispiel in den beiden, in zwei Spalten nebeneinander gesetzten Erzählungen mit dem Titel „Die Mütter“. Sie müßten von allen Kan-

zeln gelesen werden, gerade heute, wo man wieder ausgeklügelte Fassaden bastelt und dabei den Menschen vergißt. Die Analogien seines Diktums: „Wenn heute in Pilsen um eine Straßentafel gerauft wird, so ist es ein Lokalfall, und einer, über den man schweigt“, drängen sich von selbst auf. Anderseits liegt in dieser „perspektivischen Betrachtung“ auch seine Grenze. Die Perspektive kann also so perspektivisch werden, daß sie die Sache verändert. Besonders peinlich, wenn es sich dabei um sehr ernste Sachen oder gar um Personen handelt. Hier wirkt seine typische Dialektik, welche die Beziehung zwischen Wort und Inhalt bagatellisiert, peinlich. Er behält oft nur deshalb das letzte Wort, weil er die unvergleichliche Gabe besitzt, mit der Beziehung zwischen Wort und Wort ein Spiel zu führen,

dem kaum einer gewachsen ist. „Man hört das Herz der Sprache klopfen“, dieser sein eigener Satz läßt sich wohl schwerlich aus dem alleinigen Spiel zwischen Wort und Wort rechtfertigen. Qui nimis probat nihil probat, dieses Eindrucks kann man sich kaum erwehren, besonders, wenn er immer wieder (schon das ist bezeichnend!) die Sexualmoral, noch dazu in ihren positiven Formen, aufs Korn nimmt. Wenn es um Personen geht, beteuert er zwar: „Ich habe nie eine Person um ihretwillen angegriffen ... so ist es Größenwahn, wenn sich ein einzelner getroffen fühlt... Meine Opfer sollten nach zehn Jahren künstlerischer Arbeit so weit geschult sein, daß sie das einsehen und das Lamentieren endlich aufgeben.“ Doch was hilft das; wo es um die „Person“ geht, ist, um sich mild auszudrücken, eine perspektivische Verkürzung oft fehl am Platze.

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