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Joseph Roth als Prophet
DAS SPINNENNETZ. Von Joseph Roth. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1/1967. 160 Selten. DM 9.80.
DAS SPINNENNETZ. Von Joseph Roth. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1/1967. 160 Selten. DM 9.80.
Am 9. November 1923 putschten Ludendorff und Hitler in München Wenige Tage vorher war in der Wiener „Arbeiter-Zeitung“ die letzte Folge des Romans eines jungen unbekannten Autors erschienen, dei die Atmosphäre des Rechtsradikalismus, an dem zehn Jahre später die Weimarer Republik zugrunde gehen sollte, beklemmend und faszinierend zugleich auf Papier zu bannen versucht hatte. Der Name des Zeitungsromans „Das Spinnennetz“ ist der Vergessenheit anheimgefallen, der Autor kennt inzwischen die Weltliteratur. Es war Joseph Roth, dei mit diesem bis vor kurzem verschollenen „Jugendwerk“ seine literarische Arbeit begann, die ihn auf die Höhe des „Radetzkymarsch“ und dei „Kapuzinergruft“ führen sollte.
Bücher haben ihr Schicksal. Sc auch das vorliegende. Die Fortsetzungen des Zeitungsromans, an den sich wahrscheinlich nicht einmal der älteste Redakteur des sozialistischen Zentralorgans bis vor kurzem erinnert haben wird, wurden in einem vom Krieg zerstörten holländischen Verlagshaus aufgefunden, Die Ausschnitte trugen handschriftliche Vermerke von Roth. Die Vermutung liegt nahe, daß es sich bei diesen vergilbten Blättern um Roths „Belegexemplare“ gehandelt hat. Als solche wanderten sie zur Setzmaschine, um die große Lesergemeinde des Autors mit diesem verschollenen Frühwerk bekanntzumachen.
Zur Warnung: Wer sich eine literarische Spitzenleistung erwartet wird enttäuscht werden. Es ist der typische Zeitungsroman der zwanziger Jahre. Grell in den Farben, vom Expressionismus stark beeinflußt, ein wenig flüchtig konzipiert An Hand des Aufstiegs von Theodor Lohse — eines, heute würden wir sagen „frustrierten Kleinbürgersohnes“ — zu Macht über Leben und Tod wird die Atmosphäre der von Geheimbündeleien und Putschplänen erfüllten Jahre nach dem ersten Weltkrieg beschworen. Der Beginn ist dicht geschrieben und politisch prophetisch, der Schluß etwas abrupt und unbefriedigend. Einem handschriftlichen Vermerk ist zu entnehmen, daß Roth dies selbst gespürt haben muß und an ein Weiterspinnen des Fadens dachte. Andere, größere Pläne schoben sich dazwischen.
Der Leser mag das Buch, das ihm eine unerwartete Bekanntschaft mit dem jungen Roth vermittelt, mit dem Gedanken zur Seite legen „Was für eine schreckliche Zeit“. Behaglich mag er sich auf unserem Wohlstandspolster räkeln in dem Bewußtsein, wie haben wir es inzwischen weit gebracht. Vorsicht! Die Atmosphäre, in denen die Sturmvögel eines neuen deutschen Nationalismus hinter dem Schut7' des guten Namens Südtirol agitieren und in der eine Bluttat wie der Amplatz-Mord geschehen konnte, ist gar nicht so verschieden von dem Spinnennetz, daß die Lohses und ihre Hintermänner vor einem Menschenalter knüpften und in dem sich die junge Nachkriegsdemokratie verfangen sollte.
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