
Eine merkwürdige Leidenschaft bemächtigte sich des Schriftstellers Rétif de la Bretonne (1734–1806), von der er viele Jahre nicht lassen wollte. Nach Sonnenuntergang begab er sich in die Straßen von Paris und stellte seine Beobachtungen an. Darüber führte er Buch, sodass im Lauf der Zeit eine monumentale Chronik einer Stadt im Umbruch mit all ihren grausamen und wunderbaren Seiten zusammenkam. Es sind häufig Zufallsbeobachtungen, die er unternimmt, weshalb er, als er sein Manuskript zu veröffentlichen beginnt, den Lesern gesteht, dass ihm in zwanzig Jahren „nur 366-mal etwas Interessantes“ aufgefallen sei. Das bedeute nicht, dass in der Großstadt so wenig geschehe, sondern dass ihm nicht jedes Mal das Glück beschieden sei, zur rechten Zeit am richtigen Ort zu sein, wo sich gerade Erstaunliches ereigne. Ihm kommen Verdienste als ein vorzüglicher Zeitzeuge zu, der gerade im Verlauf der Revolution als aufmerksamer Beobachter unschätzbare Dokumentierarbeit leistet.
Der gelernte Drucker, der im Alter von 33 Jahren als Schriftsteller mit enormem Arbeitspensum zu leben vorhatte – er schrieb auch noch umfangreiche Romane – war ein Mann aus dem Volk. Er kannte die Nöte und das Unbehagen der Leute, die vom König und dessen Kontrollorganen ignoriert wurden. Klar steht er auf der Seite der Unterdrückten. Früh wird ihm klar, wie sich die herrschenden Machtverhältnisse und Massenarmut auf den Einzelnen auswirken. Seine Aufzeichnungen sollten als Warnung gelesen werden, was natürlich nicht geschah. Er war sich nicht zu gut, um mit den Randgestalten in Kontakt zu treten und ihre Geschichten zu hören. Eine Soziologie der Großstadt lässt sich herausziehen aus der Fülle von Einzelheiten, die Rétif de la Bretonne nicht müde wurde festzuhalten.
Augenzeuge der Revolution
Selbstverständlich ist er dabei, wenn die Bastille gestürmt wird, und kann sich gemischter Gefühle nicht erwehren: „Ein Gefühl der Freude darüber, dass dieses Schreckensgemäuer kurz vor dem Einsturz war, mischte sich in den Abscheu, der mich erfüllte.“ Das Ausmaß an Gewalt und die Rohheit des Pöbels lassen auch einen gewieften Beobachter wie Rétif de la Bretonne erschauern. Seine Ansichten wandeln sich im Abstand zu den Ereignissen. Die Fassungslosigkeit des Augenzeugen weicht später abgeklärt dem Verständnis des Geschehenen: „Die Revolution war gut: nicht gut waren aber jene, die sie machten.“
Aus dem umfangreichen Werk von gut 4000 Seiten hat Reinhard Kaiser eine Auswahl getroffen, die einen vorzüglichen Überblick über Paris im Umbruch gestattet.
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