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WIEN UND MADRID

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Die Verwandtschaft beider Städte ist an Kleinigkeiten zu erkennen, etwa dem angenehm-bequemen Tempo, in dem sich die Fußgänger bewegen, die humorvolle, leicht spöttische Miene mancher Passanten, das Verhalten der Verkehrsagenten, denen wohl ihr Dienst, nicht aber ihre Person so wichtig vorkommt wie anderswo, oder schließlich an der Zahl der aufgerissenen Straßen und der begonnenen Arbeiten, die in beiden Fällen den — nicht unbedingt unerfreulichen — Eindruck erwecken, man befände sich in einer im permanenten Umbau begriffenen Stadt…

Abgesehen von einer Fülle von Kunstsammlungen, die es zu einer der in dieser Hinsicht am meisten begünstigten Städte der Welt machen, besitzt Madrid auch nicht entfernt den Reichtum edler Erinnerungen an die Vergangenheit, dessen sich Wien erfreuen kann. Anderseits ist es auch nicht so arm an ruhmreichen Steinen, wie es auf den ersten Blick scheint.

Der Reiz Madrids aber liegt in unfaßbaren, schwer erklärlichen Dingen, die man „atmosphärisch” nennen möchte: an erster Stelle an seinem fast immer wolkenlosen und tiefblauen Himmel, seinem strahlenden, dennoch nicht blendenden Licht, der kristallklaren, im Sommer leicht vibrierenden Luft, die alle Gegenstände, so entfernt sie sein mögen, mit einer Schärfe umreißt, die sonst nur dem Meißel des Bildhauers zu eigen ist. Er liegt an der unglaublichen Farbenpracht des Sonnenunterganges, wie man ihn etwa vom Ehrenhof des Königsschlosses bewundern kann, läßt man den Blick zuerst über das dunkle Laub des Forstes Casa de Campo und dann bis in die Spalten und Täler des strengen, zu dieser Stunde beinahe finsteren Guadarrama wandern. Er liegt an den reichen Galaxien, die die feierliche kastilische Nacht schmücken, und schließlich an der zärtlichen Brise, die sich in den frühen Morgenstunden, delikat nach Thymian und Rosmarin duftend, bis in die Stadtmitte hineindrängt…

All dies also, Sonnenglanz, Licht, Farbe, Wind, Duft, ist für Madrid das, was für Wien die runden Wölbungen des Wienerwaldes, die freudigen Weinberge, das Vorbeifließen des mächtigen Stromes, die schneebedeckten Gipfel der winterlichen Voralpen sind… Und was für Wien die „Heurigen” sind, dasselbe sind — oder waren — für Madrid die „Merenderos” — Wirtschaften im Freien —, in denen Astu- rier und Galicier ihr Heimweh stillten, indem sie den schaumigen Apfelwein ihrer Provinzen tranken und am Sonntag zur Musik des heimischen Dudelsacks — manchmal auch des Madrider Leierkastens — tanzten. Was für Wien der „Wurstelprater”, sind dort die „Kermesse” (Verbenas), die der Reihe nach jedes Stadtviertel mit ihrem für empfindliche Nasen und Ohren unerträglchen Lärm und Ölgeruch erfüllen.

Und endlich die Menschen, die Madrider Menschen… Offenherzig, leichtfertig, körperlich wie geistig beweglich und lebhaft. Im Volksmund, und unter sich, nennen sich die Madrider „Katzen”, Gatps, vielleicht wegen dieser ihrer Beweglichkeit, vielleicht, weil sie für Nöktambule gelten… Eine. Legeqde erzählt, als die kastilischen Könige die Madrider Festung angriffen, hätten einige Soldaten versucht — und es gelang ihnen auch —, ins Innere der Stadt vorzudringen, indem sie über die Mauer kletterten. Der König soll dabei ausgerufen haben: „Sie klettern wie die Katzen!”

Gleich den Wienern witzig, ständig geistesgegenwärtig, sind die Madrider jedoch etwas bissiger, sarkastischer, weniger gutmütig, dem Lächeln oder dem Lachen so leicht geneigt wie dem Ärger, der Kritik, dem offenen Protest.

Eine solche Stadt, von eigenartigen, eigenwilligen Menschen bewohnt, von ihrem unbezwingbaren Geist beseelt und geprägt, müßte wohl über eigene Ausdrucksmittel seines Volkstums verfügen; und so verhält es sich auch in der Tat: I Das Volkstum Madrids manifestiert und behauptet sich in den populärsten aller Künste, dem Theater und der Musik. Was Schwank und Operette an der Donau sind, waren bis vor nicht sehr langer Zeit jene Stücke, die „Sainetes” oder, wenn sie von Musik begleitet sind, „Zarzuelas” genannt werden. Gegenwärtig kann man sie als ausgestorben betrachten, und zwar an derselben Krankheit wie Schwank und Opehette, das heißt, sie werden immer noch gespielt und beklatscht, aber keine neuen Schöpfungen dieser Art erblicken t mehr das Licht. Das Publikum, das durch sie belustigt wird und das ihnen Beifall spendet, gibt sich selbst keine Rechenschaft darüber, daß die so erfolgreichen Vorstellungen nunmehr zu einer Art Ritual geworden sind; jede Aufführung gleicht eigentlich einer Trauerfeier, in der gelacht Į und nicht geweint wird und in der eine Illusion vom Leben darüber hinwegtäuscht, daß Vorkommnisse und Menschen auf der Bühne uns nicht mehr rühren und uns fremd sind., Vergnügen allerdings schenken sie uns immer noch, denn sie sind in ihrer Irrealität bald pathetisch, bald komisch. 1 Mit gutem Grund ist darauf hingewiesen worden, daß in Jahren wie den unseren, in denen es keine Großfürsten und’ kaum mehr Erbprinzen gibt, in denen geschiedene Frauen und mehr oder minder lustige Witwen nicht mehr beachtet) werden, auch keine Aussichten bestehen für einen neuen | Leo Fall oder einen neuen Lehar, wenn auch diese Erscheinungen nicht einmalig wären.

Die intime Verwandtschaft der beiden Hauptstädte Madrid und Wien kommt nicht von ungefähr; sie hat ihre Wurzeln in der auffallenden, oft hervorgehobenen Parallelität der historischen Geschicke Österreichs und Spaniens. Die Zielsetzung der Staatsführung in den zwei Kaiserreichen war die gleiche und setzte die Bewältigung der gleichen Aufgaben voraus. An den zwei Enden des christlichen Europas gelegen, standen beide Länder Wache, das eine gegen die Türken, das andere gegen die Mauren. Beide reichten sich i die Hand im Kampf um die Erhaltung der Glaubenseinheit unseres Kontinentes, beide hatten heftigen Angriffen von außen und innen zu widerstehen, beide schließlich mußten einer Berufung erliegen, deren ungeheure Tragweite Übermensch :;he Kräfte erforderte.

Antonio Canovas del Castillo, der große Staatsmann, dem Alfons XII. seinen zurückeroberten Thron verdankte, soll einmal, als der Verfassungsentwurf für die restaurierte Monarchie im parlamentarischen Ausschuß debattiert wurde, folgende Definition des Staatsbürgers vorgeschlagen haben: „Spanier ist der, dem keine andere Wahl bleibt.” Horribile dictu! Nun, eines Tages durchblätterte ich eine angesehene Wiener Zeitung, und plötzlich fällt mein Blick auf eine, „österreichertum” betitelte Glosse, die mit einer bekannten Überschrift versehen ist und eine Reihe trostloser Sentenzen enthält, deren letzte sagt: „Österreicher ist der, der es trotzdem ist.” Ich hatte mich als junger Mann über den mich zynisch anmutenden Satz Canovas empört. Jetzt sehe ich ein, daß man ihn anders auffassen und denken kann, daß er zwar Bitternis und Enttäuschung birgt, aber auch Liebe — freilich umgekehrten Vorzeichens! Bitternisi über die unerfüllten Erwartungen, über die unverdienten Schicksalsschläge, Liebe, so innig und echt, daß sie über die Unvollkommenheiten des geliebten Landes nicht hinwegkommt! Wie sehr sich die Gedanken geähnelt haben dürften, die im Kopf des Spaniers und in dem des Österreichers umherirrten!

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