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Wir Osterreichischen Slawen

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Vielleicht zum letztenmal in der Geschichte sprach ein dazu durch sein Volk Berufener knapp vor Beginn des ersten Weltkrieges von „uns österreichischen Slawen“. Es war jener Wiener Universitätsprofessor Thomas Ma-saryk, der damals einer Partei vorstand, die sich „Realisten“ nannte. Sie brachte es im altösterreichischen Parlament, wo derlei nicht mehr gefragt war, niemals auf die Minimalstärke zur Bildung einer Fraktion. Masaryk hat bis in die Tage des Kriegsausbruchs hinein an eine Heimat der Westslawen in einem erneuerten, freien Österreich-Ungarn geglaubt. Dann schieden sich die Geister und die Wege: Eine uAaufhaltsame, aber' von beiden Seiten nicht unverschuldete Entwicklung führte das tschechische und slowakische Volk aus dem Donaustaat heraus, den realistischen Professor aber an die Spitze eines Staatswesens, das von Geburt an alle Erbkrankheiten des alten Österreich mit sich trug.

, An einem Septembertag — genau vor 25 Jahren — starb der siebenund-achtzigjährige: „Präsidentbefreier“. In den letzten Jahren war seine Persönlichkeit für die von inneren Krisen geschüttelte und von äußerer Macht bedrohte Republik das geworden, was Kaiser Franz Joseph“ für die Monarchie bedeutet hatte. Ein Großvater, dessen bloßes Dasein den Zusammenhalt zu verbürgen schien. Als er starb, wurde man von der Gewißheit übermannt, daß nun auch die Todesstunde des Gemeinwesens in seiner bisherigen Form heranrückte.

Weder die Tschechen auf dem Spielfeld des Wiener Stadions noch ihre Landsleute, die ihnen zu Ehren nach jedem der sechs Tore die Sieges-fähnchen schwangen, werden bei diesem Spiel — an seinem Todestag — mehr allzuviel von Masaryk gewußt, geschweige denn des heute von der Prager Regierung Totgeschwiegenen oder offen Verleumdeten gedacht haben. Und die siebzigtausend Österreicher auf den Rängen, die hunderttausende Rundfunkhörer werden in der überwältigenden Mehrheit kaum noch seinen Namen kennen. Und doch lebte dieses verschollene Wort von den österreichischen Slawen an diesem für die Fußballfreunde unseres Landes „schwarzen Sonntag“ merkwürdig unbewußt auf: als der Kapitän der Prager Mannschaft ans Mikrophon trat und in einem vertraut gefärbten böhmischen Wienerisch von „däm Wättspüll“ sprach, als mit einem Male die Namen durch den Äther klangen, die so vertraut klingen: Kutschera, Pospichal, Jelinek. Und als das Wiener Publikum, bei anderen Länderspielen sonst immer der eigenen Mannschaft auch in der Niederlage treubleibend, seine Beifallssympathien den Prager Gästen schenkte, nicht allzu laut, aber merkwürdig spontan.

Realist nannte sich der tapfere Professor Masaryk. Die Realisten von heute werden über ihn lächeln: Eiserner Vorhang, NS-Herrschaft, Austreibung der Deutschen, Blut, Terror, Minen, Verhaftungen ... Und doch lächelt er vielleicht auch: in jenen Sphären, wo man von den Realitäten etwas andere Vorstellungen hat.

Für uns, die wir in dieser Welt das Leben zu bestehen haben, ist die Realität dennoch hart geblieben. Masaryks Grab liegt einsam und nur insgeheim von nicht aussterbenden Verehrern gepflegt, jenseits des Eisernen Vorhangs, der sich auch hinter den sympathischen Besiegen unserer kampferprobten Nationalelf nun wieder unerbittlich geschlossen hat.

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