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Wer war Thomas Garrigue Masaryk?

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Vor zwanzig Jahren — am 14. September 1937 — schloß der Gründer und erste Präsident der tschechoslowakischen Republik, Thomas Garrigue Masaryk, seine Augen für immer. Die Aufbahrung der Leiche am Hradschin, in der Burg der böhmischen Könige, war eine wahrhaft königliche, und ebenso glich das Leichenbegängnis der Triumphfahrt eines Herrschers durch seine Stadt. Hunderttausende säumten die vielen Straßen, durch die der riesige Leichenzug langsam fuhr. Sie alle, die in stiller Trauer oder auch nur mit bloßer Neugier die Lafette mit den sterblichen Ueber- resten des gefeierten Präsidenten an sich vorbeiziehen sahen, dachten in diesem Augenblick gewiß nicht daran, daß Masaryk viele Jahre hindurch der von den Tschechen bestgehaßte Mann war, daß er vom eigenen Volk als germanophil, als Oesterreicher, als Nihilist, als Atheist verschrien war. Keiner dieser Hunderttausende dachte in diesem Augenblick auch an die Gerüchte, die sich immer wieder über die Abstammung dieses Mannes erhoben hatten.

Thomas Garrigue Masaryk war kaum Präsident geworden, als schon Gerüchte auftauchten, die nichts anderes behaupteten, als daß Masaryk gar nicht der Sohn seines in der Matrik verzeichneten Vaters sei. Der wirkliche Vater sei vielmehr ein reicher Kaufmann aus Göding, dem südmährischen Geburtsort Masaryks, gewesen. Diese Gerüchte, die natürlich nie einen schriftlichen Niederschlag fanden, wurden nie dementiert, was allerdings noch lange nicht besagt, daß sie auch der Wahrheit entsprechen würden.

Ernst Rychnovsky, einer der Biographen Masaryks, sagt in seinem Buch über den Präsidenten, daß „im Sommer 1849 der zu Göding Nr. 196 wohnhafte 26jährige Josef Masaryk, .obrigkeitlicher Roßwärter allda”, die Ehe mit der 36jährigen Theresia Kropaczek, .gegenwärtig hier als Köchin in Diensten stehend”, schloß. Dem Ehepaar wurde am 7. März 18 50 der erste Sohn geboren der auf den Namen ..Thomas, Johann getauft wurde.”

Aus dieser zitierten Stelle der Biographie fallen auch dem unbefangenen Leser sofort zwei Tatsachen auf: einmal der große Altersunterschied der beiden Neuvermählten — der Bräutigam ist um zehn Jahre jünger als seine Braut, die nach damaligen Begriffen schon eine ältere Frau war —und zweitens die soziale Kluft, die die Neuvermählten trennte. Denn der neue Ehemann ist nur „Roßwärter”, während seine Frau als Köchin in Diensten steht — sie war sogar „Herrschaftsköchin”, wie der alte Präsident erzählte — und somit eine weit bessere soziale Stellung besaß als ihr Mann. Aus den Gesprächen des alten Präsidenten über seine Jugend, die er mit dem bekannten tschechischen Dichter und Schriftsteller Karel Capek führte, geht auch noch hervor, daß neben dem Altersund Sozialunterschied auch noch ein großer Unterschied in der Intelligenz der beiden Ehepartner bestand. Der Mann, der noch als Leibeigener in der damals zu Ungarn gehörenden Slowakei geboren wurde, nie eine Schule besuchte und nur bei einer Soldatenwitwe etwas Lesen und Schreiben gelernt hatte, scheint eher ein primitiver Mensch gewesen zu sein. Etwas geringschätzig berichtet der alte Präsident von ihm, daß er in der Ehe so gut wie nichts zu reden und wenig positiven Einfluß auf ihn, den Präsidenten, hatte. Dagegen scheint die Mutter Masaryks von großer Intelligenz gewesen zu sein. Hannakin von Geburt, hatte sie einige Jahre in Wien gedient, bevor sie „Herrschaftsköchin” in Göding geworden war. Sie konnte ursprünglich kaum Tschechisch und redete und betete mit ihren Kindern anfangs nur deutsch — Masaryk bezeichnete sie in seinem Curriculum vitae von 1875, das er vor der Erlangung des philosophischen Doktorates der Universität Wien abfaßte, gar als eine Deutsche. In dem gleichen Curriculum schreibt er auch, daß er in jungen Jahren eine sorgfältige Erziehung und Pflege durch seine „gute Mutter genoß, deren aufopfernder Liebe ich alles verdanke”. Noch der alte Präsident bestätigt die Wahrheit dieser Worte, da er seine Mutter auch noch als klug und erfahren bezeichnet, die außerdem einen großen Einfluß auf ihn, ihr Lieblingskind, besaß, ja ihn direkt zu seiner kommenden Laufbahn führte. Denn als Herrschaftsköchin hatte sie Einblick in die „große Welt” gewonnen und wollte ihren Sohn auf der gesellschaftlichen Leiter höherbringen, ja, sie wollte — wie der alte Präsident sagte — aus ihrem Sohn „einen Herrn machen”. .

Ueber zwei Tatsachen aus dem Leben der Mutter Masaryks gehen sowohl die Biographien des späteren Präsidenten wie auch derselbe in seinen Gesprächen mit Karel Capek hinweg: wo die Mutter als Herrschaftsköchin in Göding in Diensten stand und an welchem Tag sie im Jahre 1849 heiratete. Warum letztere Tatsache verschwiegen wird, ist leicht ersichtlich. Denn die Gödinger Matriken verzeichnen den 15. August 1849 als Hochzeitstag der Eltern und den 7. März 18 50 als Geburtstag des späteren Präsidenten. Zwischen Hochzeit der Eltern und Geburt des jungen Thomas liegen somit nicht einmal sieben Monate. Eine Erwähnung dieser Daten hätte nur zu leicht den Gedanken aufkommen lassen können, daß der spätere Präsident einer außerehelichen Beziehung seiner Mutter entstamme. Warum anderseits wieder der Dienstort der Mutter Masaryks fast nie erwähnt wird, ist ebenfalls nicht schwer zu erraten — wenn man denselben einmal kennt. Denn die Mutter Masaryks war „Herrschaftsköchin” bei einem reichen Gödinger Kaufmann, der auch eine Mühle und ein kleines Gut besaß. Dieser Kaufmann war der Großvater des späteren weltberühmten österreichischen Historikers und Politikers Josef Redlich, Finanzministers in der letzten kaiserlichen Regierung. Dieser Gödinger Kaufmann soll auch der natürliche Vater des späteren Präsidenten gewesen sein.

Masaryks? Dann wäre eine Reihe von Tatsachen aus dem Leben des Gründers der Tschechoslowakei leichter erklärlich. So sein ausgesprochener Philosemitismus, sein starkes religiöses Empfinden, seine hervorstechende analysierende Begabung, die seinen wissenschaftlichen Arbeiten zugute kam, seine Intelligenz, die ihn alle seine Verwandten weit überflügeln ließ, insbesondere auch seine beiden jüngeren und geistig bedeutungslosen Brüder, die zweifellos echte „Masaryks” waren. Wenn der Großvater Josef Redlichs auch der Großvater der Kinder Masaryks war, dann ist es auch erklärlich, warum Jan Masaryk, der Sohn des Präsidenten, und insbesondere Alice Masaryk, die

Tochter des Präsidenten, ausgesprochen jüdische Gesichtszüge besaßen (während man im Antlitz des Präsidenten vergeblich auch nur die geringsten jüdischen Züge zu entdecken imstande ist).

Dann erscheint auch die jahrzehntelange und starke Freundschaft, die Masaryk mit Josef Redlich verband, in neuem Licht. Eine Freundschaft, die darin gipfelte, daß Masaryk im Jahre 1919, einige Monate nach Gründung der neuen Republik, Josef Redlich zum tschechoslowakischen Finanzminister machen wollte, obwohl dieser gar nicht Bürger des neuen Staates war.

Die anfangs gezeigten Momente lassen es bereits als sehr wahrscheinlich erscheinen, daß Thomas G. Masaryk nicht der Sohn jenes Mannes ist, der als sein Vater in der Gödinger Matrik aufscheint, daß vielmehr dieser eher „gekapert” wurde, um die außereheliche Beziehung der Mutter Masaryks und auch des natürlichen Vaters zu vertuschen. Ein quellenmäßiger Beweis, daß Masaryk der Onkel Josef Redlichs war, ist bis jetzt nicht bekannt, wird vielleicht auch nie auftauchen. Dennoch gibt es einen echten und wirklichen Beweis: in der Familie Redlich war die Abstammung Masaryks immer bekannt und wurde nie bestritten. In dem Vorwort zu den Tagebüchern Josef Redlichs, die vor einigen Jahren veröffentlicht wurden, gibt es diesbezüglich einen leisen und kaum wahrnehmbaren Hinweis. Denn auf Seite XII des Vorwortes schreibt der Herausgeber über den Großvater des Historikers, daß er ein Bauerngut besaß, und fährt dann fort: „Als ein interessantes Detail sei vermerkt, daß es dieses Bauerngut war. auf dem Thomas Garrigue Masaryk zwei Dezennien vor Josef Redlich geboren wurde.”

Noch ist ein Geschichtswerk nicht verfaßt: ein Werk, welches die Rolle der unehelichen und außerehelichen Kinder in der Geschichte Europas darstellt. Ein Gescbi’-htswerk, das allerdings schwer zu verfassen sein dürfte, denn nur zu oft wurde die außereheliche Abstammung vertuscht. Aber die Beispiele, die bekannt sind, zeigen schon, daß ein solches Buch nicht bedeutungslos sein könnte. So war Don Juan d’Austria, der Sieger von Lepanto, ein uneheliches Kind, ebenso der Minister Napoleons III., Graf Walewski (Vater: Napoleon L), Cosima Wager (Vater: Friedrich Liszt), der österreichische Botschafter Freiherr .von .Hübner. (Vater möglicherweise Metternich), König Alfons XII. von Spanien, Bundeskanzler Dollfuß: viele andere könnten noch aufgezählt werden. Der Gründer der tschechoslowakischen Republik dürfte in diesem Werk nicht fehlen, es sei denn, es würden direkte Beweise gegen seine Abstammung von Josef Redlichs Großvater zutage gefördert werden. In diesem Werk dürfte allerdings auch nicht die Geschichte von Adolf Hitlers Vater fehlen, der eindeutig ein uneheliches Kind war, dessen Mutter — ähnlich wie die Mutter Masaryks — bei einer Herrschaft bedienstet war und dessen Vater offiziell niemals bekannt wurde, der aber — Dr. Frank, der „Polenfrank”, behauptet es zumindest — möglicherweise ein Jude war. Woraus sich die pikante Tatsache ergibt, daß Hitler, der Millionen von Menschen zwang, sich um ihre Großeltern zu kümmern, selbst nie in der Lage gewesen wäre, seinen Ariernachweis zu erbringen. Ja, sein pathologischer Judenhaß ist vielleicht nichts anderes als ein ins Gigantische gesteigerter Oedipuskomplex.

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