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Wiz der Stadtfraclc uns Skilaufer sieht

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Wenn es geschneit hat, wird der Sonntag zum Bußtag des Großstädters. Jeder Bewohner der Stadt, unbeschadet seines Alters und Geschlechtes, der daran teilnehmen will, hüllt sich in ein grobes, hartes Gewand — es entspricht durch--aüf, dgtfteTtmeri'fceP der Übung!3 daß Site0 Glstehl^

werden. Mann und Weib, Greis und Kind verschwinden in einer Einheitskluft, die alles streng umschließt. Die Schuhe sind zentnerschwer und wohl geeignet, nicht nur ihre Träger alle Sünden abbüßen zu lassen, sondern auch die, denen jene auf die unschuldigen Füße treten. Die Hände werden durch ungestalte Hüllen zu klumpigen Stümpfen, zu ungefügen Flossen verwandelt, der Kopf steckt in einer dicht vermummenden Kappe. Die Hauptsache aber sind große, schwere Hölzer mit geheimnisvollen Metallbeschlägen und spitze Stäbe mit Rädchen daran, die die Büßer auf sich nehmen.

Es gibt verschiedene Arten, sie zu tragen: Stäbe und Balken zusammen, an der Seite, aufrecht — das ist die friedlichste Art, zu vergleichen mit dem geschulterten Gewehr des Soldaten auf dem Marsch, so er harmlos durchs Gelände zieht, Zigaretten raucht und unflätige Lieder singt, bis er den Ort des Gemetzels erreicht hat. Aggressiver ist schon jenes Verfahren, bei dem die Balken waagrecht auf der Schulter liegen und vorn, besonders aber hinten — wo sie aufgebogene Spitzen, ihre Träger aber keine Augen haben — um diese einen bedrohlichen Raum schaffen. Die Stäbe ruhen dann entweder bei den Balken oder werden in der anderen Hand unternehmend und gefährlich geschwungen. Dann kann man auch noch Balken und Stäbe mehr lässig unter dem Arm schleppen (was die Polizei, die keinen Sinn für solche Übungen hat, beanstandet), horizontal oder schräg, beunruhigend hin und her pendeln; es ist die Haltung der erschöpften, nach langen Exerzitien spätabends heimkehrenden Gläubigen, nicht minder bedrohlich für die Unbeteiligten. Schließlich habe ich noch eine triumphale Tragart der

Instrumenta -martyrii gesehen: Stäbe und Balken hinter dem Kopf, über dem Nacken schräg gekreuzt, vorn von den seitlich ausgestreckten Armen in Schwebe gehalten, so daß sie, in der Fflrjjji dej Andjre^kreuze^-^wJrSWiäiseiihiaiftess GeWeih-das Haupt des'Trägers' überragen.-Es' muß dies die Haltung der Propagandisten des neuen Glaubens sein, an die fanatische Demonstration von Flagellanten erinnernd.

Die also ausgerüsteten Sektierer besetzen nun zunächst am Sonntag alle öffentlichen Verkehrsmittel von früh bis abends. Es scheint, daß sie sich hauptsächlich vor die Tore der Stadt begeben, wo sie auf einem irgendwie besonders geeigneten Gelände ihren Bußübungen nachgehen. Diese sind radikal und furchteinflößend, nach der Zahl der Teilnehmer zu schließen, die von den öffentlichen Rettungsanstalten jeden Sonntag weggebracht werden müssen, und nach dem Zustand jener, die ohne schweren Schaden abends heimkehren. Mit erfrorenen Nasen, vor Erschöpfung keuchend, taumeln sie schweren Trittes in die Stadtbahnzüge, die Hände, die am Wochentag nur Schreibmaschine und Puderdose, Tintenstift und Matjeshering regieren, vermögen die schweren Geräte nicht mehr zu halten, und der Zivilist, der mitfahren möchte, gerät in Lebensgefahr. Im Waggon verdunkelt der Wald von kahlem Holz, an dem nur spärliche Lederriemen sprießen, das Licht, das ohnedies trübe leuchtet, da von den schneenassen Gewändern der Dunst aufsteigend sich an der Decke ballt. In rauhen, abgerissenen Worten, die sich die angestrengten Büßer zuwerfen, schei-. nen die Abenteuer des Tages fortzuleben. Nun erinnert alles in seinem Trübsinn wieder an die Mannschaft eines Walfischfängers, der von ergebnislosem' Fang heimkehrt, denn ein penetranter Geruch von tranigem Fett, mit dem offenbar die Balken beschmiert, sein müssen,' erfüllt den Waggon, dessen Boden nasser Schlamm bedeckt, während der Stadtbahnzug hoffnungslos durch sein unterirdisches Gewölbe tobt. Das ist der Tag des Herrn, an dem früher einmal auch der Ärmste sich die Illusion eines besseren Lebens zu verschaffen suchte, indem er präsen-table Kleider anzog, ein Huhn in den Topf tat und müßig ging wie ein Großfürst. Heute verwandelt sich selbst, wer nicht muß, freiwillig in einen Landstreicher, schleppt eine Zentnerlast über Land, frißt im nassen Schnee mitgebrachte kalte Stullen oder in einem Kutscherbeisel an der Heerstraße schlechtes Gulasch aus der Büchse. Wir sind eben Sünder allzumal, und das ist offenbar die Buße für das Wohlleben ach so ferner Tage. Trotzdem aber scheint an der Bußfertigkeit dieser Fanatiker etwas nicht zu stimmen; sie würden sonst nicht das Bibelwort umkehren und lieber auf den Splitter im eigenen Auge achten, statt ihre Balken in das des Nächsten zu rennen, um ihn dann darin zu suchen und den Verletzten noch zu schmähen, weil er es wagte, durch diese wilde Zeit sein menschliches Antlitz unbewehrt einherzutragen.

Aus „Gedanken unterwegs“, Langen-Müller-Verlag, München

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