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Zwei von der Ostsee

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EIN ZIMMER MIT AUSSICHT. Essays, Skizzen und Ubersetzungen. Von Sigismund von Radecki. 343 Seiten. Preis 17.80 DM. - DER MAULWURF UND DIE SCHWALBE. Roman. Von Roland Marwitz. 314 Seiten. Preis 16.80 DM. - Beide Bücher im Verlag Jakob Hegner, Köln und Ölten.

Nach Mitteleuropa kamen zwei Dichter, die an der Ostsee geboren waren; der eine, Sigismund von Radecki, ist heute in der Schweiz daheim, der andere, Roland Marwitz, in Bayern. Beide übergaben ihr Werk demselben Verlag.

Radecki hat sich als Essayist einen großen Namen gemacht und ist in seiner tiefwurzelnden Verbundenheit mit dem alten Rußland als Übersetzer ein Sachwalter der Dichter Gogol und Tschechow geworden. Nun also liegt uns ein Essayband vor, der den Titel „Ein Zimmer mit Aussicht“ führt. Das Zimmer ist das All*, tägliche unseres Lebens, die Aussicht reicht aus dem Zimmer ins Weite. Das eben bildet Wert, Bedeutung und Reiz dieses Buches, daß nichts zu klein, zu alltäglich ist, um nicht, von dem Geist eines wahrhaftig denkenden Dichters gespeist, in Beziehung zum Entscheidenden unseres Lebens zu treten. Ja, man könnte Radeckis jüngsten Essayband geradezu ein Kompendium der Weisheit nennen. Die unverrückbar feste Grundlage ist für ihn der Glaube Die Betrachtung einer kleinen Flaumfedei gipfelt nach manchen aufbauenden Ideer in dem Satz: „Die Natur ist der stärkst Gottesbeweis.“

Radecki, der viele Länder gesehen unc auf seine besondere Art wohlverstander hat, erlebt in “ einem Spinngewebe da* Mysterium einer geheimen Mathematik Staub, scheinbar ein Nichts, ist für ihr der Motor, der ihn in eine ganze Well von Eindrücken, Erwägungen und Rückblicken trägt. Dem unzählige Male besprochenen Gegensatz Hund und Katze gibt er mit neuer Formung die Schärf ; seiner Erkenntnis. Der veraltete Zylinderhut wird unter Radeckis Händen ein Gleichnis der Weltgeschichte. Die Sprache gar, die er liebt und meistert, ist für ihr ein Garten, von dessen Bäumen Frucht um Frucht ihm in den Schoß fällt; und es wird gerade hier dem Referenten schwer, sich die wörtliche Wiedergabe der Köstlichkeiten zu versagen. Aber Radecki sieht auch mit einer den Leser erregenden, verblüffenden und beruhigenden Klarheit das Symbol unserer Weltangst: die Atombombe. In diesem Buch ist die Gestaltung der Ideen ebenso vielseitig wie die Wahl der Themen. Die beherrschende Kraft eines lebensvollen Geistes verkettet in blühenden Girlanden das Erschütternde, Aufwühlende, Gigantische mit Witz und mit der Heiterkeit des Anekdotischen.

Übergangslos, um nicht zu sagen: unmotiviert und störend sind zwischen Radeckis Essays Einzelstücke seiner Übersetzungen eingebaut, unter anderem von Tschechow mit russischer Schwermut und grillenhaftem Humor und von dem Amerikaner O. Henry mit groteskem Scherz.

Wie Radecki jedem seiner Essays einen Titel voransetzt, der viel verspricht und nichts verrät, so hält es auch der zweite Autor, von dem hier die Rede sein soll, mit den Überschriften seiner Romankapitel. Dasselbe — viel versprechen und nichts verraten — gilt für die Titel der beiden Bücher. Maulwurf und Schwalbe sind bei Marwitz Zeichen der U-Bahn und Hochbahn in Berlin. Aber das Sinnbild gilt für das Ganze, für das Berlin von 1911. Aus den Widersprüchen und Gegensätzen in Fassade und Untergrund der Zweimillionenstadt, erwachsen Lust und Elend der Bewohner.

Berlin ist „die schlimmste Stadt, die es in Deutschland gab“ — „eine Stadt der stillen Größe und Wahrhaftigkeit“ —, „Heimat der Heimatlosen“. Wer, wie der unterzeichnete Referent, das Berlin der Vorkriegszeit erlebt und mit allem Vorbehalt geliebt und bewundert hat, wird dem schildernden Dichter in heller Begeisterung zustimmen. Und das Ja gilt auch der Technik, der künstlerischen Konstruktion des Romans. Da sind so und so viele Einzelschicksale, fürs erste voneinander völlig abgesondert. Otto Below, der Juniorchef der Below-Bräu AG., Gereon zu Dommburg-Oberley, der prinzliche Sproß eines längst entmachteten deutschen Fürstenhauses, Käthe Median, gegen den Willen ihrer Familie in eine etwas anrüchige Theaterlaufbahn abgeglitten, Ellore Jacobi, jüdische Studentin ohne Illusionen, Fritz recte Baruch Mandelbaum, gefinkelter Theaterdirektor, Sylvio Krüger, ein kleiner Buchhandelslehrling und andere — der Dichter verknüpft mit kunstvollen Griffen ihre Schicksale. Auf einem stark beleuchteten Hintergrund stehen die Bilder der größeren Zeitgenossen: Wilhelm IL, Max Reinhardt, Joseph Kainz und Sigmund Freud, Schöpfer der vergotteten Psychoanalyse. Die zielsicher geführte Handlung des Romans steigert sich zu Spannung und Tragik. Das wehmütige, gute Ende klingt aus in die Worte „Es wäre leichter, Kind, wenn wir noch an Gott glauben könnten“ und in die Antwort: „Vielleicht glaubt Gott an uns“.

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