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Das Phänomen Ozawa

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Seiji Ozawa, Jahrgang 1935, wurde in Tokio ausgebildet. Bereits 1960 begann seine große Karriere, die von Bernstein und Karajan beschleunigt wurde. Nach zahlreichen Gastspielen, hauptsächlich in den USA und in Kanada, wurde er 1956 bis 1968 musikalischer Direktor in Toronto, mit Beginn der nächsten Spielzeit wird er als Nachfolger von Josef Krips die Leitung des San-Francisco-Orchestra übernehmen. In Wien hat er, und zwar im Großen Musikvereinssaal, vor vier Jahren zum erstenmal dirigiert (Debussy, Prokofieff, Berlioz) — und einen starken Eindruck gemacht. Mit seinem letzten Konzert konnte er diesen wesentlich vertiefen.

Auf dem Programm des 8. Konzertes im Zyklus „Die Große Symphonie“ stand die „Pathetique“ von Tschaikowsky und Strawinskys „Sacre du Printemps“. Der zartgebaute, schlanke Mann mit der Beatle-Mähne ist ein rechter Faszi-nateur. Aber seine suggestive Begabung kommt, obwohl es auch allerlei zu sehen gibt, vor allem der Musik und den Musikern zugute. Ozawa ist, wenn man ihn mit anderen Dirigenten seiner Generation vergleicht, etwa mit Abbado oder Mehta, „aus feinerem Holz“. Er begreift die Musik vor allem von der emotionellen Seite, das Affektive, das hinter den Noten steht. Das ist in Tschaikowskys letzter Symphonie Schwermut, Klage, Resignation, mit wilden Temperamentsausbrüchen abwechselnd. — Bei Strawinsky ist es das Magisch-Beschwörende, das Geheimnisvoll-Rituelle, die barbarischen Rhythmen undi dynamischen Entladungen von erschreckender Gewalt. (Der Schweizer Komponist Frank Martin hat einmal gesagt, daß diese Musik auf ihn, mehr als fünfzigJahre, seit er sie zum erstenmal gehört hat, als „permanenter Schock“ wirkt.) Ozawa blieb dieser Partitur nichts schuldig. Höchstens in manchen technischen Details. Doch da hatte man den Eindruck, daß eine zusätzliche Probe den Wiener Symphonikern, die großartig in Form waren, jene letzte Sicherheit gegeben hätte, die eine Aufführung vollkommen macht.

Ozawa, der die Orchestermusiker mit Courtoisie behandelt und, was er wünscht, mit sanfter Gewalt aus ihnen herausholt, ist auch ein gebildeter Mann. Das bewies die zunächst überflüssig erscheinende Aufnahme des Einminutenstückes „Greeting Prelude“ ins Programm, unmittelbar zu Beginn des zweiten Teiles. Diese Miniatur, eine eigenwillige Harmonisierung von „Happy birthday to you“, schrieb Strawinsky im Jahr 1955 zum 80. Geburtstag seines Freundes Pierre Monteux, der 1913 die Uraufführung des „Sacre“ dirigiert hatte, die im Tumult unterzugehen drohte, und der ein Jahr darauf auch die erfolgreiche konzertante Erstaufführung dieser Partitur in ihrer heutigen Form leitete.

Das Publikum bereitete dem Orchester und dem Dirigenten lebhafteste und langanhaltende Ovationen.

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