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Neue Musik - leicht gemacht

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Der von aufgeschlossenen Menschen oft geäußerte gute Wille, ja der Vorsatz, auch moderne Musik verstehen oder sich zumindest an sie gewöhnen zu wollen, scheitert häufig daran, daß man die betreffenden Werke nur einmal oder nach langer Pause hören kann. Aber der erste Eindruck genügt nicht und ist oft unbefriedigend, erst beim zweiten, dritten und öfteren Hören beginnen sich gerade die wertvollsten Werke zu erschließen. Davon weiß auch der Rezensent ein Lied zu singen Da kommt uns heutzutage die Schallplatte zu Hilfe, die man beliebig oft abspielen kann und die in ihrer neuesten, perfektionierten Form, der Langspielplatte, das ununterbrochene Abhören auch allerlängster Sätze ermöglicht.

Beginnen wir mit Claude Debussy, von dem, nach einem Wort André Maurois’, die ganze moderne Musik abstammt. Das 1894 vollendete „Prélude à l’a p r è s - m i d i d’u n faune”, ein träumerisch- zartes Stimmungsbild, völlig unkonventionell, aber von äußerster Folgerichtigkeit in der Form, ist mit seinen neuartigen, einschmeichelnden Harmonien, seinen fluktuierenden Rhythmen und Ganztonskalen wie kein anderes Werk geeignet, unserem Ohr das musikalische Neuland, in das wir eintreten wollen, zu erschließen. Unter der Leitung von Jean Martinen interpretiert das Orchester der Concerts Lamoureux das Werk auf der Philips-Langspielplatte S0601lR (Preis 90 S) mit französischer Klangkultur. Auf der Fiückseite der gleichen Platte wurde Paul D u k a s’ symphonische Dichtung „Der Zauberlehrling“ nach Goethes gleichnamiger Ballade aufgenommen, die keines Kommentars bedarf.

Debussy war es auch, dem Maurice Ravel sein in den ‘ Jahren 1902 bis 1903 geschriebenes erstes (und einzigés) Streichquartett vorlegte und der seinen 13 Jahre jüngeren Landsmann „im Namen der Musen“ beschwor, keinen Ton daran zu ändern. Das viersätzige Werk hat neun Themen, die zyklisch wiederkehren, und ist mit seiner farbigen Harmonik, der Klarheit seiner Form und seiner lebhaften und abwechslungsreichen Rhythmik sehr charakteristisch für Ravels Stil. Das Budapester Streichquartett spielt das Werk tonschön und temperamentvoll auf Philips A 01 606 R (Preis 162 S).

Der um sieben Jahre jüngere Igor Strawinsky scheint bereits einer anderen Generation anzugehören und ist aus gröberem Holz als Ravel. Nach impressionistischen Anfängen („Der Feuervogel“) zeigt er zum erstenmal in dem 1911 für Diaghilew geschriebenen Ballett „Petruschka seine unverwechselbare Eigenart. Der Klang seines Orchesters ist härter, die Harmonien sind geschärfter als die der Franzosen. In dem bunten Jahrmarkttreiben, wo sich das Schicksal der Marionette Petruschka erfüllt, fehlt es nicht an Drehorgelmusik und folkloristischen Anklängen an die Butterwoche von St. Petersburg. Das Philharmonische Symphonieorchester New York unter Dimitri. Mitropoulos spielt das Werk mit einer Bravour und Perfektion, wie man sie im Konzertsaal selten antrifft. Auçh klanglich ist die Philips-Langspielplatte A 01 104 L von kaum überbietbarer Vollkommenheit (Preis 198 S).

Zwanzig Jahre später schrieb Strawinsky zum 50. Jubiläum des Bostoner Symphonieorchesters seine „Psalmensymphonie“. Das strenge und strenggläubige Werk für vierstimmigen gemischten Chor (ohne Frauenstimmen) und Orchester (mit starker Bläserbesetzung, ohne Violinen und Bratschen) meidet allen Gefühls- und Farbenrausch und ist von spröder Monumentalität. Den lateinischen Text zu dieser Choralsymphonie in drei Sätzen entnahm Strawinsky dem 39., 40. und 150. Psalm der Vulgata. Von der „Deutschen Grammophon-Gesellschaft" wurde das Werk mit dem Chor der Sankt- Hedwigs-Kathedrale, Berlin, dem RIAS-Chor- und -Symphonieorchester unter Ferenc Fricsay auf LPM 1803 5 aufgenommen (Preis 198 S).

Auf der Rückseite der gleichen Langspielplatte befindet sich, vom gleichen Orchester unter demselben Dirigenten gespielt, die „Petite Symphonie concertante" des Schweizers Frank Martin (geboren 1890). Dem Streichorchester stellt der Komponist ein höchst apartes Concertino, bestehend aus Klavier, Cembalo und Harfe, gegenüber. Das in den langsamen Sätzen nobel-ausdrucksvolle und in den raschen Teilen mitreißende Werk gehört zu den meistgespielten der zeitgenössischen Produktion. In seinem Aufbau ist es so klar, als Ganzes so kurzweilig, daß man das Studium der neuen Musik auch damit beginnen mag.

Zum Schluß noch ein guter Rat für Schallplattenkäufer: man höre sich womöglich jede Platte vor Erwerb an. Es gibt da, trotz der mechanischen Vervielfältigung, nicht unbeträchtliche Unterschiede in der Qualität, besonders was Reinheit und Natürlichkeit des Tones betrifft.

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