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Das Ornament

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Wenn im Volkstheater der Vorhang nach den zehn Bildern des Schauspiels „Elisabeth von England“ von Ferdinand Bruckner fällt, hebt ein Beifall an, der die Schauspieler immer wieder hervorruft. Noch einmal treten sie vor und werden umjubelt: Käthe Dorsch — Elisabeth von England; ihr Widerpart Rudolf Forster — Philipp von Spanien; ein neues Gesicht: Ricklef Müller — Essex; Egon Jordan — Bacon; Otto Woegerer — Cecil; und Else Bassermann — Lady Anne; und der Regisseur Karl Heinz Stroux; und Gustav Manker, der die Bühnenbilder schuf. Ihnen haben wir einen Theaterabend zu danken, wie schon lange keiner war, einen Abend, der uns im Gedächtnis bleibt. Im Gedächtnis bleibt nicht nur das Stück; jede Gestalt bleibt klar vor uns.

Da ist Elisabeth von England. Sie erscheint als einsame und alternde Frau, die sich allein für das Schicksal ihres Landes verantwortlich fühlt. Sie sucht eine Idee, der sie das Denken für ihr Land unterordnen könnte, aber sie findet diese Idee nicht. Da sie aber eine Frau ist, tritt die Illusion an die Stelle der Idee und gibt ihr eine böse Kraft. Es ist die Illusion, die Philipp heißt. Sie glaubt, daß Philipp sie liebe, und daß alles, was er gegen England unternimmt, eigentlich nur ihr gilt. Geschichte, so scheint ihr — was ist das anderes als die Spannung, die zwischen zwei Menschen entsteht? Sie kann niemand neben sich dulden. Cecil bemerkt sie nicht. Und die Günstlinge gehen vorüber.

Da ist Essex, „Englands entbehrlichstes Ornament“, der eine Zeitlang davon träumt, der Königin unentbehrlich zu sein, weil er so voll Jugend ist. Da ist Bacon, sein Lehrer, unter dessen Einfluß er steht, ein kalter, ehrgeiziger, faszinierender Mann, Bacon, die Vernunft, Bacon, der Elisabeth die Idee gibt für das kommende Imperium: die Idee der Nation. Essex und Bacon: „der Schmerz und die Vernunft“.

Da ist Philipp von Spanien, der von Szene zu Szene verfällt und gespenstischer wird, Philipp, der an der Idee festhält, für die er lebt: an der Idee des orbis catholicus, eines weltumfassenden spanisch-habsburgischen Reiches, der Reichsidee, die von einem unbeirrbaren und unerbittlichen Glauben getragen wird. Und da ist das Kreuz, der Gekreuzigte daran, zu dem Philipp und Elisabeth — großartige Simultaneität der Szene — um Sieg und Gelingen beten. Kann der Kruzifixus beide erhören? Oder wird er beide verwerfen? Bruckner läßt diese Frage offen. Aber er zeigt, wie die Todesstunde Philipps zur Geburtsstunde eines ganz anderen Weltreiches wird.

Da sind die Bühnenbilder, die nur andeuten und doch gewichtig sind. Sie geben ganz den Charakter des Elisabethanischen Zeitalters, aber sie tragen auch einfache metallene Ornamente aus unserer Zeit. Und da bleibt ein historisches, ein psychologisches, ein großartiges Schauspiel, ein unentbehrliches Ornament der Geschichte und des Theater.

In zunehmendem Maße werden von Nesttoy jetzt auch die selten gespielten Possen aufgeführt. So ruft das Kleine Theater im Konzerthaus jetzt die Gestalten von „Lady und Schneider“ in einer Inszenierung von Otto Ambros auf die Bühne. Nestroys Possen sind überall zu Hause, in der Vorstadt ebenso wie im Keller. Sie sind echte Volksstücke; an ihnen kann immer noch weitergedichtet werden; die Gesangseinlagen verlangen stets neue, aktuelle Texte. Es sind Possen, die sich sozusagen von selbst spielen. Wenn man sich ihnen nicht in den Weg stellt, kann es einfach nicht schiefgehen. Nestroys Publikum will über alles lachen: über Wortwitz und Schluckauf, Pointe und Geste. Otto Ambros und mehr noch Eduard Loibner unterstützen es darin nach Kräften.

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