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Wenn sich ein ausländischer Kritiker über das polnische Fernsehen anerkennend äußert, nimmt das der Pole mit Beigeschmack der Unglaubwürdigkeit auf. Er ist geneigt, sich über das Programm, die Darsteller und die technische Seite der Sendungen zu beklagen, und bemerkt oftmals gar nicht das, was beim Fernsehen am wichtigsten ist: die Begabung und der Ehrgeiz der schaffenden Künstler, die unter überaus schwierigen Bedingungen erfreuliche Resultate erzielen.

Das Fernsehen entstand in Polen vor elf Jahren als ein Experiment im wahrsten Sinne des Wortes. Primitive Aufnahmeapparaturen, mangelnde Erfahrung und ungenügende Vorbereitung, das Fehlen von technischen Kadern, von Darstellern und Regisseuren und vor allem der Mangel an Fernsehapparaten — dies waren die Bedingungen, unter welchen die ersten Programme entstanden. Wenn wir heute über ein zentrales Programmstudio in Warschau, fünf lokale Sender und eine Zahl von zirka 700.000 Abonnenten verfügen, kann man sich leicht vorstellen, um wieviel mehr Gründe zur Klage es in jener Zeit gegeben haben muß, als noch aus einem winzigen Raum Programme vermittels Kameras übertragen wurden, die ein seitenverkehrtes Bild ergaben. Seit jener Zeit verbesserten sich die technischen Voraussetzungen beträchtlich, und wenn sie auch heute noch lange nicht vollkommen sind, ermöglichen sie doch eine ständige Ausstrahlung von 2200 Fernsehstunden im Jahr.

Es ist klar, daß es nicht möglich ist, die charakteristischen Züge der wichtigsten Programmpunkte darzulegen, weil ihrer zuviele sind. Da das Programm in ein künstlerisches und nichtkünstlerisches zerfällt, werden wir uns hauptsächlich auf das erstere beschränken, da es dieses war, dem die gute Beurteilung des polnischen Fernsehens zu verdanken ist.

Die Grundlage der künstlerischen Programme stellt das Fernsehtheater * dar. Die Bezeichnung „Theater“ ist eine Begriffsprägung, weil es hier keinen Vorhang, keine Rampe, ja nicht einmal eine Bühne gibt und die Darbietungen keine Bühnenschauspiele im herkömmlichen Sinne des Wortes sind. Es sind Schauspiele, die sich zwar manchmal auf einen dramaturgischen für die Bühne eines Normaltheaters bestimmten Stoff stützen, die jedoch ihre eigene, ganz individuelle Form besitzen, die durch einen Inszenierungseinfall, das Bühnenbild, durch eine besondere Art der Regie oder durch die dem Fernsehen eigenen technischen Mittel bestimmt wird. Suchten wir nach einem Vergleich, einer Ähnlichkeit auf einem anderen Kunstgebiet, müßten wir eher an den Film als an das Theater denken, allerdings mit der Einschränkung, daß der Film sich vom Fernsehtheater durch das Spiel des lebenden Darstellers unterscheidet, der dem Schauspiel das Element des direkten, nicht wiederholten Erlebens verleiht. Jede Aufführung eines Schauspiels ist eine neue Vorstellung, weil der Schauspieler anders spielt. Hier gibt es zahlreiche Beispiele. In einem der Schauspiele hatte ein bekannter Schauspieler die Gestalt eines machtbesessenen Mannes darzustellen. Auf Drängen der Zuschauer entschloß sich das Fernsehen, das Schauspiel nach einigen Wochen zu wiederholen. Zum Erstaunen aller war die künstlerische Leistung desselben Darstellers um vieles schwächer. Es stellte sich heraus, daß dieser während der ersten Aufführung 38 Grad Fieber gehabt hatte.

Im Gedächtnis der Zuschauer blieb das Fernsehtheater mit zahlreichen hervorragenden Uraufführungen haften, deren Einfallsreichtum und Neuartigkeit darauf beruhten, daß deren Schöpfer sich von allem Anbeginn an bemühten, ihnen eine eigene Note zu geben. Diese ergab sich aus der Besonderheit der Technik der Fernsehübertragung. Der Fernsehschirm, der prominente Schauspieler gewissermaßen als private Gäste in die Wohnung des Zuschauers bringt, zwingt sowohl den Stil des Spiels als auch die Art der Inszenierung und sogar die Wahl des Repertoires auf. Wohlbekannt ist der Grundsatz, daß der Schauspieler im Fernsehen keine Beine hat. Diese Tatsache erfordert notwendigerweise die Verlegung des schauspielerischen Ausdruckes auf das Gesicht und die Hände des Darstellers, erschwert das Spielen von Situationsszenen beträchtlich, beschränkt die Darstellung von Massenszenen und macht die Inszenierung gewisser Stücke, die als Antifernsehstücke bezeichnet werden, gänzlich unmöglich. Auf der Suche nach Darstellern führte das Fernsehtheater Proben mit vielen Schauspielern durch und wählte jene aus, die durch ihre Ausdrucksmittel, die Fähigkeit des Spiels ohne Zuschauer sowie die Leichtigkeit der Erlernung von Rollen, die später sogar ohne Partner gespielt werden müssen, für die Darbietungen vor der Fernsehkamera besonders geeignet erschienen. Die Notwendigkeit, ein Repertoire zu finden, führte zu den Versuchen der Bearbeitung von literarischen Werken — übrigens größtenteils gelungene, manchmal sogar hervorragend gut gelungene Versuche.

Auf diese Weise entstand der gute Ruf des Fernsehtheaters, welches durch Experimente unter den günstigen Voraussetzungen freien künstlerischen Schaffens verhältnismäßig schnell hervorragende künstlerische Leistungen für sich beanspruchen konnte.

Das Fernsehprogramm bringt aber auch zahlreiche andere bemerkenswerte Programme. Da sind eine literarische Brettlbühne, eine Unterhaltungs- und Gesangbübne, ferner ein überaus interessantes „Kabarett der älteren Herren“, das einen neuzeitlichen mit Groteske und Satire gewürzten Humor darbietet, sowie zahlreiche ambitionierte künstlerische Versuche für die Jugend. Diese Programmpunkte bedürfen einer genaueren Besprechung, für die hier der Platz mangelt. Deshalb beschränkten war uns auf dias Fernsehtheater, welches im Fernsehen den exponierten Platz einnimmt.

Das in diesem Bericht mehrfach verwendete Wort „Fernsehtheater“ ist offenbar eine wörtliche Übersetzung aus dem Polnischen. Es entspricht, dem Sinne nach, dem im deutschen Sprachraum üblichen Ausdruck ..Fernsehspiel“ (Anm. d. Red.).

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