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Albanien heute

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Wenn Paul Lendvai, Chefredakteur der Ost- und Südosteuropa-Redaktion des ORF etwas anpackt, dann packt er es gründlich an. Wenn es eines weiteren Beweises für diese Behauptung bedürfte, dann liefert ihn sein vor kurzem erschienener Albanien-Report.

Seinem rund 100 Seiten starken Bericht hat Lendvai nicht weniger als sechs Seiten Anmerkungen hinzugefügt, die erkennen lassen, wie gründlich er sich in die Materie eingearbeitet hat. Die Reportage selbst ist flott geschrieben und gespickt mit dichter Information. Die analytischen Erklärungen sind wohl abgewogen.

Was nun hat Lendvai aus dem Land der Skipetaren, dem abgeschlossensten und einsamsten Land Europas zu berichten?

Der Autor bereiste Albanien 1983 und 1984 zweimal hintereinander und legte dabei 3300 Kilometer durch das Land zurück. Natürlich war er dabei ständig von offiziellen Begleitern umgeben und wurde zusätzlich von der Geheimpolizei überwacht. Dennoch gelang es ihm wiederholt, Blicke hinter die Fassaden zu werfen, die das Regime gegenüber ausländischen Besuchern aufgerichtet hat.

Lendvai weiß deshalb auch zwischen Schein und Wirklichkeit des albanischen Alltags sehr wohl zu unterscheiden. Und das, obwohl „Albanien das Land mit dem größten Propagandaaufwand pro Kopf und pro Quadratkilometer ist”.

Noch einen anderen „Weltrekord” hat Lendvai im Land der Skipetaren entdeckt: „Es mag zutreffen, daß Albanien das niedrigste Pro-Kopf-Sozialprodukt (schätzungsweise 840 Dollar) in Europa aufweist. Was aber die Geheimpolizei betrifft, so ist sie im Verhältnis zu Fläche und Bevölkerung wahrscheinlich die größte der Welt. Die Sigurimi kontrolliert laut Amnesty International etwa ein Dutzend Konzentrations- und Arbeitslager mit einigen Tausenden von politischen Häftlingen.”

Und wer war und ist von Terror und Repression des kommunistischen Regimes betroffen? Lendvais Befund: „Von Anfang an richtete sich der Terror vor allem gegen die katholische Kirche.” Aber auch alle anderen kirchlichen Gemeinschaften seien seit 1944, wenn auch mit unterschiedlicher Härte, unterdrückt worden.

„Die Stunde der endgültigen Abrechnung kam im Jahre 1967, als das Regime angeblich unter dem Druck von unten zu einem Generalangriff auf die Religionen aufrief und bald danach den ersten atheistischen Staat der Welt proklamierte. In weniger als einem Jahr wurden 2169 Moscheen, Kirchen, Klöster, Kapellen und andere religiöse Gebäude geplündert, geschlossen oder in Kulturzentren umgewandelt. 327 davon waren katholische Einrichtungen.” Lendvai schätzt die Zahl der Katholiken im Norden Albaniens auf etwa 300.000.

Die Folge des atheistischen Terrors: „Die Kampagne gegen die Religion hat die nationalen Kulturschätze der Skipetaren in einem kaum vorstellbaren Ausmaß verwüstet. Nirgendwo in Europa wurde die Religion mit solcher Brutalität bekämpft und die religiöse Kunst und Architektur so bedenkenlos vernichtet.”

Zu verantworten hat dies natürlich in erster Linie der in diesem Frühjahr verstorbene albanische Langzeit-Diktator Enver Hod-scha, den Lendvai als den „am stärksten international geprägten * und gebildetsten aller kommunistischen Parteiführer seit Lenin” bezeichnet. Hinter dieser Behauptung ist ein Fragezeichen angebracht,

Lendvai schreibt freilich auch, daß Hodscha bis ins hohe Alter ein „Stalinist reinsten Wassers” war, ein „begnadeter Techniker der Macht”, der in schwierigen Situationen den potentiellen Rivalen stets einen Schritt voraus gewesen sei: „Hodscha hat den Stalinismus und die Entstalinisie-rung ebenso gemeistert wie das Auf und Ab während der langen Jahre der Allianz mit Rotchina.”

Der Autor zeigt aber auch positive Errungenschaften des Hod-scha-Regimes auf: den Kampf gegen Säuglingssterblichkeit (die durchschnittliche Lebenserwartung wurde auf 70 Jahre verdoppelt), Analphabetentum und Seuchen.

Die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, Gemüse und Obst sei zweifellos besser als in Rumänien, Polen und vielen Teilen der Sowjetunion, der schwache Punkt sei wie auch dort die Fleischversorgung. Andere Schwachstellen der streng zentralistischen Wirtschaftslenkung wie beispielsweise Uberbeschäftigung, veraltete Produktionsmethoden, fehlende Leistungsanreize, mangelnde Arbeitsmoral zeigt Lendvai ebenfalls auf.

Albanien heute: Ein Land der Bintönigkeit und der erzwungenen Gleichförmigkeit, geprägt vom Mißtrauen gegenüber allem Fremden. Gleichwohl: Im Willen zur Verteidigung der nationalen Identität wüßten Führung und Volk sich einig.

Deshalb Lendvais Schlußfolgerung: „Jede albanische Führung will unbeugsam, wenn auch mit mehr Flexibilität den Kurs der nationalen Selbstbehauptung weiterführen. Die Erbschaft Hod-schas bleibt ungeachtet der ideologischen Verkleidung ein Albanien, das zum ersten Mal in der Geschichte volle und uneingeschränkte Souveränität und Entscheidungsfreiheit genießt.”

DAS EINSAME ALBANIEN. Reportage aus dem Land der Skipetaren. Von Paul Lendvai. Edition Interfrom (Texte und Thesen, Band 177), Zürich-Osnabrück 1985. 118 Seiten, TB., OS 109,2o.

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