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Als der alte Schneider in der Mette den Bart verlor

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Seine Hände stecken Winter und Sommer in fingerlosen Handschuhen, derGicht wegen, erträgt weiche Stoffschuhe, der Anzug schlottert an seinem dürren Körper. Der Kopf, der eines Patriarchen, eingerahmt von wallenden, weißen Locken, deren vielfach gedrehte Enden im Lichte aufleuchten, ebenso die Bartspitzen. So blieb er in meinem Gedächtnis, der alte Schneider, der zu wenig an die frische Luft ging und, heute würde man sagen, an Kreislaufstörungen litt, dem Alkohol zusprach und Mesner wurde, als er keine Kleider mehr machte (oder keine Aufträge erhielt) und sich durchschlug mit Flickarbeit.

Anekdoten haben einen nachsich-Z\ tigen Ton, Mythen stellen Be-J. \- Ziehungen her, und das Bild wird daraus lebendig, nur Gleichgültigkeit ist keine echte Nachsicht und Nachrede noch kein Mythos.

Wir Kinder, in der Kirche in den vordersten Bänken, beobachten ihn, immer eines Schauspiels gewärtig, insbesondere zur Mette, weil gewiß ist, daß er über den Durst getrunken hat. Es beginnt, als er die Sakristei mit dem Stab zum Anzünden der Kerzen verläßt. Er steigt die Altarstufen hinauf, hebt den Stab mit dem brennenden Wachsstockende. Die Orgel präludiert. Der Raum ist erfüllt vom Geruch nach Mänteln, die Menschen blasen den Hauch ihres Atems in die kalte Luft. Er zielt mit dem Stabende nach dem Kerzendocht, und es ist, als setze sein Atem für Sekunden aus, und mit dem seinen der der Zuschauer; dann geht das Atmen weiter: wieder den Docht verfehlt. Ein Kichern sickert durch.

Schon als er aus der Seitentür trat, stand ihm der Zweifel im Gesicht. Die Kälte sitzt allen in den Beinen, und obwohl sich einer an den anderen preßt (um Mitternacht kein unge wöhn-liches Bild), erwärmen sie nicht. Sie starren durch die Helle des elektrischen Lichtes auf die lebendige kleine Flamme am Stockende, aber die Blicke und Atemstöße erreichen den Mann nicht. Er ist allein mit dem Stab und mit der Kerze, die er entzünden soll und die er verfehlt. Die in den vorderen Seitenstühlen sehen es genau: der brennende Docht neigt sich, schwebt über dem Docht der Kerze, umkreist ihn und sinkt ab. Dann beginnt es von neuem.

Meine Erinnerung überspringt ein paar Tage. Der Neujahrsmorgen. Der Mann mit dem weißen Lockenkopf geht von Haus zu Haus und singt seinen frommen Neujahrswunsch. Man kann nicht anbeten ohne zu singen, erwärmt von den Schnäpsen, und: man hat Gesang immer geschätzt, den Sängern Achtung erwiesen. Dem Manne wurde jedes Jahr neu geboren; daß ein Jahr wie das andere ist, die Zeit also nicht endet und nicht beginnt, tut er ab; das sei keine Weisheit. Der feste Plan ist nötig, wie das Essen und Trinken, und die Dinge verlangen Geduld.

Deshalb hat er Zeit, der Mann an der Kerze. Nun hat er drei entzündet, sie leuchten im unschuldigen Weiß, noch sechs, es ist ein Fest.

In einer dieser Mettennächte hat der Mann seinen Bart verloren. Das heißt, er wurde ihm so geschändet, daß er ihn noch in derselben Nacht abnahm. Nicht daß die Kerze hartnäk-kiger gewesen wäre, sie war nur frisch aufgesteckt, der Docht neu. Sie fiel nach der ersten Einkreisung, als fiele sie in Ohnmacht, ohne daß der Stab sie berührte (das bezeugen Erwachsene in den vorderen Bänken), sank um, doch vor dem Fallen brannte der Docht an, der Mann bestrebt, den Fall aufzuhalten, reckte die Brust und warf den Kopf hoch, da er die Hände nicht frei hatte.

Er rettete die Kerze, sie brach nicht, fiel nicht zu Boden. Mit dem Fuß blieb sie in der Schale des Halters, und mit der brennenden Spitze verfing sie sich im Barthaar des Mannes. Sie versengte den Bart, löschte aus, und das feine Brutzeln wurde niemand gewahr, die Geruchs wölke nach verbranntem Horn stieg nur ihm in die Nase, der sie kaum merkte, denn der stechende Schmerz übertäubte sie. Er ließ den Stab mit einer Hand los, nicht um sich ins Gesicht zu fahren; er griff nach der Kerze, steckte sie in den Halter zurück, drückte sie an (die Sorgfalt bestätigen Augenzeugen), und von neuem begann das Einkreisen.

Nicht lange, dann brannte die Kerze. Die restlichen folgten rasch. Der Mann war wach geworden. Er stülpte die Lippen, entspannte sie, und die Geste hielt an, als er im festlichen Brausen des Gloria mit dem Klingelbeutel erschien. Aller Augen waren auf ihn gerichtet. Stolz übersah er es. Er achtete nicht darauf, daß sie nach seinem Bart sahen, die Tat, mit der er eine Kerze gerettet hatte, machte ihn groß, er hatte etwas im Gesicht, was alle anging.

Noch in derselben Nacht saß er vor dem Spiegel, die Schere in der Hand. Die Haare fielen wie Sisalfasern, bedeckten silbern die Tischplatte. Man beglückwünschte ihn am Morgen. Er sagte nicht: Ich habe durchgewacht, kein Auge zugetan in dieser herrlichen Nacht. Er trug das Brandmal offen.

Man sagte, er sähe aus wie neugeboren ohne Bart. Das glaubte er, es paßte ihm gerade jetzt. Nicht jedermann hat das Glück, neu geboren zu werden, sagte er. Ein Kindsgesicht, sagte man hinter vorgehaltenen Händen.

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