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Bewegung in Ungarns Opposition

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Die Gründung eines Diskussionsforums für Oppositionelle aller Schattierungen im März sowie der ersten unabhängigen Gewerkschaft seit vierzig Jahren Mitte Mai und die Installierung eines selbständigen Jugendverbandes (FIDESZ, siehe Interview) sind neue Signale der ungarischen Oppositionsszene. Zwar existiert seit Jahren eine Anzahl regimekritischer bis -feindlicher Gruppierungen, es fehlte jedoch an einer Kooperation untereinander.

Die Schattierungen der Gruppen mit zum Teil eigenen Samis-dat-Blättern reichen vom Allgemein-Politischen — Sozialismusreformer, bürgerliche Demokraten und Populisten — zu Einthe-ma-Vereinigungen (ökologisten, „Blaue“), oppositionellen Religiösen (jüdische Opposition) und oppositionellen Künstlern („IN-CONNU“).

Die verschiedenen und oft unterschiedlichen Ziele der einzelnen Gruppen sowie die geringe Anzahl ihrer Anhänger hatten es zeitweise unmöglich gemacht, von einer ungarischen Opposition zu sprechen.

Während der 30. Jahrestag der Herbstereignisse des Jahres 1956 von regimekritischen Gruppen — aus Desorganisation und wohl auch zur Vermeidung von Provokationen — nahezu ohne Aktivitäten verstrich, wurde in der Zeit danach eine neue Form oppositioneller Arbeit in Ungarn institutionalisiert: Seminare zu bestimmten Themen in Privathäusern.

Diese Treffen dienten Referaten, Wortmeldungen und dem Gedankenaustausch über die Zäune der ideologischen Kleingruppen hinweg. Es erschienen auch neue Samisdat-Publikationen, die im Unterschied zu den zwei *chon klassischen („Beszelö“ und „Hir-mondo“) kürzere, aktuellere und allgemein-lesbare Artikel verbreiten; Nachrichtenblätter der „Blauen“ (Donau-„Grüne“), „De-mokrata“ und „Magyar Zsido“ („Ungarischer Jude“) wurden zu Periodika.

Ende vorigen Jahres wurde die „Bajcsi-Zsilinsky-Bruder-schafts-Gesellschaft“ gegründet, eine oppositionelle Umweltschutzgruppe, nachdem die verwaltungspolizeiliche Anmeldung eines Umweltschutzvereins 1987 abgelehnt worden war. Die neue Gesellschaft hat bereits einen Umweltmarsch und die ungarische Präsentation eines österreichisch-ungarischen Umweltbuches organisiert.

Die Gründung der ersten unabhängigen Gewerkschaft in Ungarn fand nur wenige Wochen vor der Landesparteikonferenz (FURCHE 20 und 21/1988) und in einer allgemein parteikritischen Atmosphäre statt, die seit vielen Jahren nicht mehr zu spüren war. Noch im Frühjahr wurde die Gründung einer unabhängigen Studentengewerkschaft, ausgehend von der Budapester Juridischen Fakultät, unterdrückt.

Mitglied hätte nur jemand werden können, der keiner anderen politischen Gruppierung angehörte. Das versucht jetzt der Verband Junger Demokraten zu verwirklichen.

Ein wichtiger und in der westlichen Presse bis zu den jüngsten Anti-Ceausescu-Demonstrationen in Budapest eher vernachlässigter Aspekt der Oppositionsszene Ungarns ist die Behandlung der Tausenden nach Ungarn gereisten Rumänen, zum Großteil ungarischer Nationalität, die nicht nach Rumänien, wo ein Größenwahnsinniger ganze Dörfer auslöschen will, zurückkehren wollen. Fünfzehntausend solcher Inner-Ostblock-Flüchtlinge leben nach offiziellen Angaben bereits in Ungarn und mehr als 20.000 sollen Ungarn bereits in Richtung Westen verlassen haben.

Erst seit wenigen Wochen erhalten sie — im Widerspruch zu bilateralen Abkommen und zur Ost- block-Praxis — eine reguläre Aufenthaltsgenehmigung und einen Arbeitsplatz beziehungsweise Geld für ihren Transitaufenthalt. Der Schußwechsel an der ungarisch-rumänischen Grenze anfangs März, ausgelöst durch einen Flüchtling und erst durch von Ungarn erbetene sowjetische Panzer beendet, hat die Budapester Behörden nun - neben der Opposition- auch auf einen deutlich verschärften Kurs gegenüber Nico-lae Ceausescus Rumänien gebracht.

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