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Die Flucht war auch Protest

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Die ungarische Flüchtlingswelle, die nach Niederwerfung des Aufstandes ab November 1956 Österreich überrollte, bestand hauptsächlich aus Leuten der jungen Generation; die Männer überwogen, die Arbeiterschaft bildete die Mehrheit. Beachtlich war aber auch der Anteil an Personen mit intellektuellen Berufen beziehungsweise der Anteil an Schülern und Studenten.

Da einzelne Kontingente nach Erreichen Österreichs direkt ins Ausland weitertransportiert und diese in Österreich möglicherweise nicht einmal registriert wurden, ist die errechnete Endsumme der Flüchtlinge von November 1956 bis April 1958 mit 180.288 Personen doch nur als eine Schätzung der österreichischen Grenzbehörden aufzufassen. Da allein im November 1956 mehr als 113.000 Flüchtlinge österreichischen Boden betraten, kann es kaum möglich gewesen sein, daß jeder Grenzübertritt exakt festgehalten werden konnte.

Die vorhin genannte Gesamtsumme kann daher als eine zwar realistische, jedoch untere Grenze gesehen werden. Die Zahl der nach Jugoslawien geflüchteten Ungarn ist noch viel weniger genau errechnet worden: die Daten schwanken zwischen 20.000 und 34.000.

Die Zahl aller Ungarnflüchtlinge ab 1956 lag somit annähernd bei 210.000. Die Erwähnung der Ungarn-Flüchtlinge in Jugoslawien ist deshalb wichtig, weil sie nach vorübergehender Internierung alle in den Westen abgeschoben wurden. Ein großer Teil von ihnen gelangte nach Österreich, wodurch die Anzahl der hier befindlichen Flüchtlinge noch mehr anstieg.

Bemerkenswert ist, daß die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge Österreich nur zum vorübergehenden Aufenthaltsort wählte. Eine Erhebung vom Februar 1957 ergab, daß mehr als 90 Prozent der Ungarnflüchtlinge den Wunsch hatten, weiterzuwandern. Und bis zum 30. Juni 1959 hatten bereits 167.582 Personen Österreich verlassen. Etwas mehr als 4 Prozent waren bis April 1958 wieder nach Ungarn zurückgekehrt.

Die beliebtesten Zielländer waren die USA (38.058), Kanada (25.513), Großbritannien (20.690), die Bundesrepublik Deutschland (14.317), die Schweiz (12.131), Frankreich (10.240) und Australien (10.156). Bis Juni 1959 verblieben lediglich 11.471 ungarische Flüchtlinge in Österreich. Sicherlich wählten später mehrere tausend enttäuschte Auswanderer Österreich doch zur zweiten Heimat.

Der Aufstand in Ungarn hat ungeahnte Kräfte in Bewegung gesetzt, die nach der Niederwerfung zum Großteil ins Ausland abflössen.

Nach dem Einmarsch der Roten Armee blieb für die meisten der gefährdeten Studenten keine andere Wähl, als sich der Verfolgung durch Flucht zu entziehen. Die berechtigten Befürchtungen rissen aber sicherlich auch junge Leute mit, die in den offenen Grenzen eine Chance für ihre Zukunft erblickten. Die Flucht entbehrte aber auch der Motive des Protestes gegen die neuen Machthaber in Ungarn nicht.

Da die Landesorganisation der ungarischen Studentenschaft (MEFESZ) am 56er-Aufstand entscheidend mitgewirkt hatte, war es nur selbstverständlich, daß die Flüchtlingsstudenten diese Verbindung über die Landesgrenzen hinaus auch im Westen fortzuführen gedachten. Mit dem Zentrum in Genf wurde die Union of Free Hungarian Students (UFHS) gebildet. In Österreich konnte kein zentraler Studentenverband gegründet werden. Man arbeitete in Innsbruck, Graz und Wien völlig selbständig.

Die politische Bedeutung der UFHS konnte den ungarischen Behörden nicht gleichgültig bleiben. Die Schürung von Gegensätzen kann mitunter auf die Rechnung von Spitzeln und Geheimagenten gesetzt werden.

Die Umtriebe im Wiener Studentenverband sollten „beweisen“, daß es sich bei den ungarischen Studentenorganisationen im Ausland um faschistische Bewegungen handelt. Verschiedene Kampagnen dienten dazu, den ungarischen freien Studentenverband als „Handlanger der amerikanischen Imperialisten“ und seine Mitglieder als „CIA-Agenten“ zu diffamieren.

Die Propagandaschlacht nach Niederschlagung des Aufstandes hatte also auch Auswirkungen auf ungarische Studenten im Ausland.

Der Beitrag basiert auf einem von der Stadt Wien geförderten Forschungsprojekt: „Ungarn an österreichischen, insbesondere an Wiener Hochschulen und Universitäten nach 1956“.

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