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Boß wird eingekreist

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Die Silvesternacht war dem Vorhaben günstig. Überall in der Nachbarschaft knallten Feuerwerkskörper und (harmlose) Gewehr- und Pistolenschüsse, da fielen ein paar weitere (weniger harmlose) Schüsse nicht weiter auf. Sie trafen den amerikanischen Gewerkschaftsführer Yablonski, dessen Frau und Tochter. Er muß sich in seinem festungsartigen Haus in der Umgebung von Washington, allerdings Washington in Pennsylvania, mit der Kraft der Verzweiflung gewehrt haben, aber es gelang ihm nicht mehr, in die Nähe seines im Schlafzimmer versteckten Gewehres zu kommen.

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Die Silvesternacht war dem Vorhaben günstig. Überall in der Nachbarschaft knallten Feuerwerkskörper und (harmlose) Gewehr- und Pistolenschüsse, da fielen ein paar weitere (weniger harmlose) Schüsse nicht weiter auf. Sie trafen den amerikanischen Gewerkschaftsführer Yablonski, dessen Frau und Tochter. Er muß sich in seinem festungsartigen Haus in der Umgebung von Washington, allerdings Washington in Pennsylvania, mit der Kraft der Verzweiflung gewehrt haben, aber es gelang ihm nicht mehr, in die Nähe seines im Schlafzimmer versteckten Gewehres zu kommen.

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Frau und Tochter wurden anschließend „erledigt“. Sie haben nicht versucht, sich zu wehren. Yablonski hatte das Gewehr seit Tagen griffbereit, denn er wußte, was ihm blühte — er wußte überhaupt zu viel. Bekanntlich hatte er kurz vor seinem Tod in der letzten Nacht des Jahres 1970 den Kampf gegen einen übermächtigen Gegner aufgenommen, gegen Tony Boyle, den Vorsitzenden, besser gesagt Diktator der Bergarbeitergewerkschaft der USA.

Boyle ist so mächtig, daß es bei den Gewerkschaftswahlen, in denen auch für amerikanische Verhältnisse überaus fette Pfründen auf dem Spiel stehen, in den letzten Jahren völlig aussichtslos war, gegen ihn zu kandidieren. Was er nicht mit Geld erreichte, erreichte er durch die Angst, die er den um ihre monatlichen 4000 Schilling fürchtenden Gewerkschaftsrentnern ein jagte.

Yablonski, ein alter Hase, der in der Bergarbeitergewerkschaft groß geworden war und alle schmutzigen Tricks und den ganzen Berg schmutziger Wäsche in diesem Metier kannte, nahm die Herausforderung an. In einer seiner letzten Reden, bevor er die Wahl verlor, fragte er: „Ist das noch Amerika oder ist das das Nazideutschland der Gestapo?“ Nach der Wahl aber bezeichnete er das für ihn ungünstige Ergebnis als geschoben und kündigte an, den Kampf nicht aufzugeben.

Tony Boyle muß ebenfalls Angst gehabt haben — Angst vor Enthüllungen, die ihn nicht nur von seinem Vorsitzendensessel, sondern direkt ins Gefängnis stoßen konnten. Es gibt kaum jemanden in Amerika, der Yablonski solche Enthüllungen nicht zugetraut hätte. Man muß das bedenken, bevor man Zweifel daran äußert, ein amerikanischer Gewerkschaftsboß könnte seinen Konkurrenten einfach um die Ecke gebracht haben.

Die Täter wurden gefaßt. Einstweilen sind sie nicht „Täter“, sondern „Verdächtigte“ in Untersuchungshaft. Insgesamt sechs Personen. Tony Boyle ist selbstverständlich nicht unter ihnen. Noch nicht. Denn vor wenigen Tagen ist eine Prozeßbombe geplatzt. Dabei hat der Prozeß noch gar nicht begonnen.

Aber Claude Edward Vealey, einer der Angeklagten, hat ein Geständnis abgelegt. Damit ist Vealey zum Zeugen der Anklage geworden und hat seinen Kopf gerettet, denn kein ] amerikanisches Gericht hat die Mög lichkeit, einen Angeklagten gegen den Willen des Anklägers auf den elektrischen Stuhl zu bringen. Und der Ankläger Richard Sprague, einer der bekanntesten und „erfolgreichsten“ Ankläger derJUSA, hat zugegebenermaßen mi* Vealey den in den USA nicht unüblichen (und auch im Manson-Prozeß „bewährten“) Pakt geschlossen: Schonung als Preis für Informationen und für belastende Aussagen gegen die Mitverdächtigen.

Sprague verteidigt diesen Schritt mit dem Argument, ein solcher Kompromiß sei besser als die ‘andere Alternative, die gelautet hätte: Verurteilung gedungener Mörder, aber keine Handhabe gegen die Hintermänner.

Der wichtigste Verdächtigte natte früher zeitweise eine polizeiartige Schlägereinheit der Gewerkschaft geleitet. Dieser Hauptangeklagte, Sileous Huddleston, ist ein weißhaariger Mann, der dem Aussehen nach ohne weiteres auch Anwalt sein könnte. Ankläger Sprague, der 400 Mordanklagen vertreten und zwanzigmal die Todesstrafe beantragt hat (achtzehnmal wurde ihm stattgegeben), ist davon überzeugt, daß es ihm mit Hilfe von Vealey gelingen wird, an die Hintermänner der Gruppe heranzukommen. Und die „Befehlskette“, die zu diesem dreifachen Mord führte, bis zum Anfang zu verfolgen.

Selbstverständlich nimmt der Ankläger weder den Namen Boyle noch das Wort Bergarbeitergewerkschaft in den Mund. Aber er erklärt, das von FBI aufgestöberte Beweismaterial könne, zusammen mit den Aussagen eines Komplizen, „sehr entschieden“ zur Auffindung derer führen, die den Auftrag zu diesem Mord erteilten.

Ganz Amerika weiß, wer gemeint ist. Und das ganze Fußvolk der Bergarbeitengewerkschaft, so weit es nicht selbst in die Korruptionsaffären der Gewerkschaftsspitze verwickelt ist, hofft auf eine große Reinigung. Denn völlig abgesehen davon, daß der Terror innerhalb der Gewerkschaft von Jahr zu Jahr wuchs und mit dem Terror die Angst, wurde die Gewerkschaftsführung, je intoleranter sie nach innen wurde, um so „kooperativer“ den Tarifpartnem gegenüber.

Ein geflügeltes Wort in der Gewerkschaft, freilich nur hinter vorgehaltener Hand geflüstert, lautete: „100.000 Dollar für einen Gewerkschaftsboß sind billiger als ein Dollar pro Woche für 100.000 Mann!“

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