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Brief an einen revolutionären Filmproduzenten

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„... in letzter Zeit hört man von Ihnen, und was noch schlimmer ist, über Sie recht wenig. Ja, es laufen wilde und alarmierende Gerüchte herum, daß Sie sich von Ihrer bisherigen Produktion distanzieren wollen, um in ein anderes Filmgenre umzusteigen.

Was ist denn los mit Ihnen? Sind Sie müde geworden? Hat Ihr revolutionärer Eifer nachgelassen? Oder — was noch präke-rer wäre, zweifeln Sie vielleicht an Ihrer revolutionären Mission?

Sie waren es, der mir die frappierende Wahrheit über den europäischen Film ermittelt hatte — daß im heutigen Europa nur und ausschließlich Filme für fünf Millionen türkische Onanisten gedreht werden dürfen. Wollen Sie zuletzt Ihre türkischen Gastarbeiter im Stich lassen? Ihre sexuellen Probleme noch trister machen, als sie heute sind? Sind Sie sich auch der Folgen Ihrer Resignation, (oder was Ihr Schweigen und Ihre Untätigkeit auch zu bedeuten hat) bewußt?

Oder ist das Geschäft nicht mehr lukrativ genug? Das lehne ich hinsichtlich Ihrer Person entrüstet ab, Ihnen ging es ja immer nur um die Kunst, ja, um mehr, Sie wollten durch Ihre Kunst ja die letzten freiheitsbehindernden Tabus brechen! Ihre Parole hieß doch — Sie haben es in mehreren

Interviews ganz präzise formuliert — .Durch die sexuelle Befreiung zur totalen Freiheit des modernen Menschen ...'

Ihre Streifen sollten doch der edlen Aufgabe der Entfrustrierung der Menschheit dienen? Das war mehr als Kunst und Geschäft, das war eine Mission, eine verantwortungsvolle Aufgabe, die Sie wohl freiwillig, aber verbindlich auf sich genommen haben! Sie dürfen unter keinen Umständen desertieren, denn die totale Befreiung würde dadurch ja auf dem halben Wege steckenbleiben, und das wäre wohl verheerend ...

Oder haben Sie, der Entfrustrierte und Bahnbrecher, zuletzt Angst vor der Konkurrenz bekommen? Vor dieser infantilen Emanuelle, vor dieser miesen unmoralischen Geschichte, vor den menschenfeindlichen Ergüssen eines Pasolini? Hat man Ihnen zuletzt mit Erfolg einreden können, daß Ihre Frau Wirtin, Ihre Schulmädchenreporte mit diesen miesen Streifen auf einer Ebene stehen? *

Oder ging Ihnen die Puste aus, fällt Ihnen nichts Neues mehr ein, womit Sie die sexuelle Revolution bereichern könnten? Warum sind Sie denn, falls diese Vermutung stimmen sollte, nicht gleich zu mir gekommen? Ich

könnte Sie, und ich kann Sie auch jetzt noch, falls Sie sich entschließen sollten, weiterzumachen, mit ganz neuen, ganz bahnbrechenden Ideen beliefern, ganz selbstlos, ohne Absicht und ohne Honorar oder Anerkennung...

Denn ich kann mich erinnern, wie Sie einmal einem Reporter mit Seufzern gesagt haben — daß es kaum noch etwas Neues gibt, was noch nie da war; daß man halt schon alles gedreht habe, daß man nur noch Variationen produzieren könne. Sie mußten sich zu dieser Zeit in tiefster Depression befunden haben.

Gut, da gab es schon eine Bettszene mit einem beinlosen Mann, aber das war nur ein halber Weg! Eine Bettszene zwischen einem beinlosen Mann und einer buckligen Frau hat man dennoch noch nie zu drehen gewagt! Und, umgekehrt, zwischen einer beinlosen Frau und einem buckligen Wüstling, der sie vergewaltigt.

Sie könnten erwidern, daß es ja keinen Zweck habe und daß alles sofort wieder nachgeahmt und zu nacktem Kommerz mißbraucht werde. Wie wahr.

Aber Sie sind dos olles der Menschheit schuldig — und erst dann dürfen Sie sagen: die Revolution ist out, ich bin müde, mir fällt gar nichts mehr ein, ich habe meine Pflicht getan!“

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