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Brief aus Odessa

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„Bei meinem jüngsten Verhör durch die Staatspolizei hat man mir erneut angedroht, daß ich in Bälde verhaftet werde. Ich nütze daher die verbleibende Zeit, um meinen Freunden Näheres über mich und mein Leben zu berichten.

Ich komme aus einer ukrainischen Kleinstadt. Weit und hreit gab es keine jüdischen Schulen und ich besuchte eine russische Schule; dennoch erlernte ich die jiddische Sprache und jüdische Bräuche von Vater und Mutter. So habe ich mich seit jeher als Jüdin gefühlt: In der achten Klasse-weigerte ich mich, am Ukrainischunterricht teilzunehmen, da meine Muttersprache Jiddisch ist. Ich war 14 Jahre alt, als die große, vom Staat betriebene antisemitische Kampagne begann. Offiziell nannte man das damals .Kampf gegen die entwurzelten Kosmopoliten“. Ich erinnere mich an all die Angst und Verwirrung, die bei uns zu Hause herrschte. Ich habe damals ein Tagebuch geführt. Wenn ich es jetzt durchlese, ehe ich es vernichte, damit es nicht in die Hände der Staatspolizei fällt, lebe ich erneut die ganze Pein jener Zeiten durch. Und ich finde darin den Satz: Ich verstehe nicht, warum man nicht akzeptiert werden kann, weil man ein Jude ist.

Ich vermerkte alles. Daß Stalin schließlich starb. Daß die jüdischen

Ärzte, die er hatte verhaften lassen, rehabilitiert wurden. Daß Beria hingerichtet wurde. Mit welch kindlicher Einfalt habe ich mich damals gefreut und an den Sieg der Gerechtigkeit geglaubt! Ich begann mein Studium im Institut für Bibliothekare. Ich war begeistert, als man den Stalin-Kult auf dem 20. Parteitag verurteilte. Warum aber wurde damals mit keinem Wort der besten jüdischen Künstler und Schriftsteller gedacht, die nach dem zweiten Weltkrieg umgebracht worden sind? Warum wurde der Antisemitismus der unter Stalin Staatspolitik geworden war, nicht verurteilt? Warum wurden die von Stalin geschlossener jüdischen Schulen und Theater nichl wieder geöffnet, jüdische Zeitungen und Zeitschriften nicht wieder gedruckt? Ich verstehe nun, daß mein damaliger Glaube, daß mit Stalins Tode auch das Ende des Antisemitismus bei uns gekommen sei, eine Illusion gewesen ist.

Nachdem ich das Bibliothekarsinstitut absolviert hatte, schaute ich mich nach einem entsprechender Posten um. Niemand zeigte irgendeir Interesse für meine fachlicher Kenntnisse. Da ich Jüdin war, karr eine Aufnahme in eine Bibliothek höheren Ranges nicht in Betracht Mit Müh und Not gelang es mir, ir einer Bibliothek des untersten Ranges unterzukommen, in der ich derzeit noch beschäftigt bin.

Als ich an Postfach 92, Jerusalem (die Adresse der Jüdischen Agentur) mit der Bitte schrieb, sie möger meine Verwandten in Israel ausfindig machen, begann sich die sowjetisch« Staatspolizei für mich zu interessieren. Meine Wohnung wurde durchsucht und Literatur über Israel beschlagnahmt. Seither werde ich immer wieder zu Verhören vorgelader und mit bevorstehender Inhaftierung bedroht. Ebenso werden mein« Freunde, Verwandten und Arbeitskollegen einvemommen und aufgefordert, zu bezeugen, daß ich irgendwelchen .sowjetfeindlichen Tätigkeiten“ nachgehe.

Ich bin mir bewußt, daß mir Verhaftung und möglicherweise lange Jahre Gefangenschaft bevorstehen Eines jedoch weiß ich sicher: mein Schicksal ist mit Israel verbunden, und was immer ich zu erdulden haben werde, wird mich nicht von dir, meinem Volk, trennen. Mit ebensolcher Gewißheit glaube ich daran, daß die Verhaftungen in Leningrad, Riga und Kischinew den Kampf der sowjetischen Juden um ihr Recht auf Auswanderung nach Israel nicht zum Stillstand bringen werden.

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