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Brillantine als Zeitgefühl

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80.000 Popfans bei vier Konzerten im New Yorker Madison Square Garden; von der Langspielplatte dieser Konzerte werden binnen einem Monat zwei Millionen Stück verkauft, handelt es sich um eine junge Beat-Gruppe, um Frank Sinatra oder um Vietnam-Kriegsgegner. Weit gefehlt. Altmeister Elvis Presley war wieder einmal am Werk. Nach 16 Jahren Rock 'n' Roll, 32 Filmen und gigantischen Einkünften aus Platten, Konzerten und Fernsehrechten singt und rockt er wie eh und je; trotz seiner 37 Lenze ist er für viele noch immer der Größte.

Aber auch eine Reihe anderer Stars sind von der Renaissance des Rock-and-Roll der fünfziger Jahre wieder an die Oberfläche gespült worden. Unter ihnen finden sich so klingende Namen wie Bill Haley, Jerry Lee Lewis, Fats Domino, Chuck Berry und Little Richard; Buddy Holly und Eddie Cochran werden immer noch gespielt. Neben diesen Rock-Opas hat sich auch eine Reihe jüngerer Gruppen auf das profitable Rock-and-Roll-Geschäft verlegt, Slade, Creedence Clearwater Revi-val, The Who und Crosby, Stills, Nash & Young mögen als Beispiele genügen.

Bezeichnend für die Faszination des Rock and Roll ist, daß man eigentlich nur bedingt von einer Wiedergeburt sprechen kann, der Rock war nämlich nie tot. Seit den ersten Rythm-and-Blues-Platten in den USA war der Rock nie ganz von der Szene verschwunden, daß er aber gerade jetzt wieder ein so kräftiges Lebenszeichen von sich gibt, hat neben der dem Rock eigenen Faszination und Dynamik auch noch andere Gründe.

Noch vor kurzem waren die zwanziger Jahre en vogue gewesen, Omas Kleidchen, Opas Hüte, Hosenträger und Krawatten.

Dennoch haben auch die krampfhaften Wiederbelebungsversuche seitens der Modebranche den zwanziger Jahren nicht viel helfen können, die Jugend von heute hat zu dieser Zeit keine innere Beziehung und auch die ältere Generation dachte dabei eher an Weltwirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit denn an Charleston und Modetorheiten. Die Wiederbelebung mußte mißglücken, sie war nicht viel mehr als ein kurzlebiger Jux. Mit den fünfziger Jahren, die jetzt als „falsche Fuffziger wieder fröhliche Urständ feiern, verhält es sich anders.

Erinnern wir uns an den unerwartet großen Buch- und Filmerfolg der „Love Story“! Noch vor wenigen Jahren wäre dieses Machwerk als verlogen-sentimentaler Kitsch weitgehend unbeachtet geblieben. Die Tatsache, daß der neuen Romantikwelle dennoch ein großer Erfolg beschieden war, liegt wahrscheinlich nicht nur in psychologischen Faktoren, sie ist zweifellos umweltbedingt.

So war es für die amerikanische Jugend der fünfziger Jahre ein Bedürfnis, sich nach dem zweiten Weltkrieg und dem Korea-Krieg (1950 bis 1953) auszuleben. Diese Jugend kreierte sich ihre eigenen (unheroischen) Idole: Marilyn Monroe, Ava Gardner, James Dean, Humphrey Bogart und eine Reihe von Rock-and-Roll-Sängern. 1954 erschien Bill Haleys „Rock around the Clock“; es gab keinen Krieg mehr, keine Lebensmittelrationierung — die Welt war wieder heil. Für die Erfüllung des Wunsches, eine fröhliche, sorglose und ungetrübte Zeit zu verleben, war der Rock and Roll gerade das rechte Mittel; daneben wirkte er auch als nicht zu unterschätzendes Agressionsventil. Was bewirkte, daß die „Rebellion“ auf Konzerthallen beschränkt blieb — nachher ging man nach Hause und war es zufrieden.

Rock and Roll ist keine Hörmusik, Rock and Roll muß erlebt und erfühlt werden. Deshalb macht es auch nichts aus, daß die musikalische Qualität mehr oder weniger dürftig ist; in erster Linie geht es um Rhythmus, Dynamik, Energie und Miterleben.

Diese emotionell befreiend wirkende Musik wurde durch die Beatles — wenigstens teilweise — verdrängt. In der Folge wandte sich die Jugend, saturiert von den Genüssen der Uberflußgesellschaft und konfrontiert mit Umweltverschmutzung, Rassendiskriminierung, Vietnam, Lateinamerika und einer zunehmenden Eskalation der Gewalt, von der „heilen“ Ideologie der fünfziger Jahre ab. Mystizismus, Meditation und Drogen sollten Abhilfe schaffen, erwiesen sich jedoch als bewußtseinstötende und nicht als bewußtseinserweiternde Mittel. Der amerikanische Soziologe David Riesmann umriß die Radikalisierung in den USA der sechziger Jahre prägnant: „Die Amerikaner sind so eitel, zu glauben, daß die USA entweder als das beste-oder als das schlechteste Land der Welt erscheinen müssen. Es liegt etwas ungemein Beruhigendes in der Tatsache, daß es keines von beiden ist.“

Die gesellschaftliche Spaltung der USA durch den Vietnamkrieg reichte tief und hat auch die übrige westliche Welt nicht verschont. Zusammen mit einer streckenweise zügellosen Agitation seitens der Neuen Linken gelang es auch in Europa, ein radikales Klima zu schaffen; Frankreich und die Bundesrepublik, wo im Zuge linker Unruhen die rechtsradikale anachronistische NDP erfolgreich auf Stimmenfang gehen konnte (ähnlich wie Wallace in Amerika), sind beredte Beispiele dafür. Der Prozeß der Ernüchterung, der bereits zu Beginn der siebziger Jahre eingesetzt hatte, schuf jedoch in zunehmendem Maße ein Klima der Realitätsbezogenheit und einen emotionellen Spannungsabbau.

Vorbei die Zeit der großen Studentenunruhen, verklungen die Protestlieder eines Bob Dylan, eines Pete Seeger und einer Joan Baez! Allzu extreme idealistische Vorstellungen machten einer eher realitätsbezo-ger.en Atmosphäre Platz. Die Tatsache, daß es nicht einer der demokratischen Jugendlieblinge, nicht Eugene McCarthy oder George McGovern waren, die in Vietnam eine entscheidende Änderung herbeiführten, sondern der „böse, reaktionäre und stockkonservative“ Richard Nixon, ließ den Protest vollends erschlaffen.

Kein Wunder, daß die eher unbeschwerten fünfziger Jahre vielen heute in einem positiveren Lichte erscheinen, als noch vor einigen Jahren. Diese Fünfziger hatten — trotz aller Unannehmlichkeiten — einiges für sich. Man war noch nicht sexuell saturiert, ein schüchterner Kuß in einem Vorstadtkino war schon mehr, als man eigentlich erwarten durfte. Der Lebensstandard war erst im Steigen begriffen und das Taschengeld war mager. Man war gezwungen, aus weniger mehr zu machen; Drogenmißbrauch, Umweltverschmutzung, tägliche Gewaltakte und andere „Errungenschaften“ der letzten Zeit waren noch Fremdwörter.

Auch der amerikanische Jungregisseur Peter Bogdanovich kommt von den Fünfzigerin offensichtlich nicht los. In seinem Film „The Last Picture Show“ schildert er das langsame Sterben einer kleinen texani-schen Stadt während der fünfziger Jahre, während er in ,,Is' was, Doc?“ einen alten Humphrey-Bogart-Film zu Ehren kommen läßt.

In New York begeistert ein neues Musical jung und alt; das zweifelhafte Produkt heißt bezeichnenderweise „Grease“, was soviel wie Haarfett oder Brillantine bedeutet — die Assoziation zum „Gschupften Ferdl“ drängt sich auf! Angeblich soll sich sogar der Hula-Hoop-Reifen wieder steigender Beliebtheit erfreuen...

Daß auch in der Mode die „Fifties“ wieder en vogue sind, ist kaum verwunderlich, sind doch Unterhaltungsmusik und Mode heute fast nahtlos synchronisiert. Eine Psychologin meint dazu: „Statt Neues zu kreieren, reproduziert man — speziell in Musik und Mode — wieder einmal die Stile der „guten alten Zeit“.

Ein bißchen verrückt ist es dennoch, die fünfziger Jahre als gut und alt zu bezeichnen; da gab es immerhin den Ungarnaufstand, die Suezkrise, den Aufstand in der DDR und den Koreakrieg.

Dennoch, im Vergleich zur unmittelbaren Nachkriegszeit machte das Leben damals wieder mehr Spaß und man hatte die Möglichkeit, mit sich selbst etwas anzufangen.

Die Jugend der fünfziger Jahre war sicherlich nicht dümmer als die Jungrevolutionäre der sechziger Jahre, sicherlich aber unkomplizierter.

Die sechziger Jahre waren zweifellos notwendig und sie haben ihren Beitrag zur Bewußtseinsbildung auf den verschiedensten Bereichen (Demokratisierung, Dritte Welt, hemmungsloses Wirtschaftswachstum kontra Umwelterhaltung) geleistet, wie sehr aber hier und dort übers Ziel geschossen wurde, zeigt die heutige Abkehr der Jugend von der Protestbewegung.

Wie mit dem Rock and Roll, so verhält es sich auch mit den fünfziger Jahren; sie waren eigentlich nie tot, sie waren nur eine Zeitlang suspendiert und setzen sich heute in erfrischender, wenn auch modifizierter Weise fort.

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