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Das Lied ist verstumm

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Wenn wir Bedürfnis nach Musik haben, schälten wir das Radio ein oder legen eine Platte auf. Unsere musikalische Versorgung ist technisch von frühester Jugend an gesichert. Sobald sich ein Kind aufrichten kann, interessiert es sjch für die Betätigung von Knöpfen. Als Schulkind bekommt es, noch ehe es richtig lesen gelernt hat, seinen eigenen Kassettenrecorder. Etwas später klemmt es sich Kopfhörer an die Ohren—eine Möglichkeit, sein Alleinsein unter Menschen zu genießen, ohne denken zu müssen. Die Autos sind mit Musikanlagen ausgestattet, das individuelle Kassettensortiment zusätzlich zum Radio ist eine Selbstverständlichkeit. Aber auch der am Traktor arbeitende Bauer läßt sein Gerät über Felder und Weingärten schmettern, der Jogger läuft damit durch den Wald, auf Schilifthängen dröhnt es wie auf Eislaufplätzen. Stadt und Land sind mit Lärm überfüllt.

Nur eines hört man so gut wie nie: schlichtes, natürliches Singen. Und auch das Pfeifen ist eine Seltenheit geworden.

Wir sind musikalisch so lückenlos versorgt und überversorgt, daß sich die Frage stellt: Wann und warum sollten wir auch noch selbst singen? Die Schlaflieder der Mütter werden vom Traummännlein des Fernsehens ersetzt. Manuelle Arbeiten, zu deren Rhythmisierung früher gesungen wurde, werden heute maschinell verrichtet.

Wo eine technische Erfindung — mit welchen Köstlichkeiten auch immer sie uns beschenken mag — eine menschliche Tätigkeit ersetzt, verkümmern die Fähigkeiten, die zur Ausübung der Tätigkeit nötig waren. Es verkümmern die Muskeln durch das Auto, deshalb ist der Sport so wichtig geworden. Es verkümmert die schriftliche Ausdrucksfähigkeit durch das Telefon, und das schadet der Sprache an sich. Das Kopfrechnen ist fast gänzlich verkümmert, und das untrainierte Gedächtnis ist schwach geworden. Nur alte und sehr altmodische Menschen können noch ein Gedicht auswendig aufsagen. Es ist der Sinn dafür verloren gegangen, daß etwas auswendig zu können bedeutet, es inwendig zu besitzen, „to know by heart“.

„Schläft ein Lied in allen Dingen“, aber Melodie und Text sind vergessen oder der Pflege von Vereinen überlassen. Vergessen ist auch, daß die eigene Stimme ein Instrument ist, dazu bestimmt, die Schwingungen der Seele zum Ausdruck zu bringen. Die Daseinsfreude, das gehobene Lebensgefühl, aber auch Trauer und Schmerz, Ehrfurcht und Anbetung verlangen nach Form und Gestaltung. In all diesen Situationen konsumiert der moderne Mensch die Stimmen von Berufssängern in Konservenform.

Die Stimme bedarf wie jedesln-strument der Pflege. In den Schulen wird zwar nach wie vor gesungen, aber das regt die Schüler nicht dazu an, es auch außerhalb der Schule zu tun. Der Pflichtgesang, das Lied als Befehlsvollzug beim Militär, ist ein altes, vorzügliches Disziplinierungsmittel. Singen verhindert Denken und erzeugt durch die allgemeine Gedankenverhinderung die Illusion von Einheit. Die einzelne Stimme, vereint mit vielen anderen, ergibt einen berauschend starken Klang. So kommt man mühelos vom Gleichklang zum Gleichschritt.

Singen ist also nicht nur absichtslose, spontane Äußerung, nicht nur das unschuldige , J.ch singe wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet; Das Lied, das aus der Kehle dringt, ist Lohn, der reichlich lohnet.“ Wer nicht singt, muß nicht unbedingt ein böser Mensch sein, der keine Lieder hat. Vielleicht handelt es sich um jemanden, dem das Singen schon in der Volksschule verleidet worden ist.

Nur in den Kirchen wurde die Kontinuität des Singens beibehalten, und deshalb zeigen sich gerade im kirchlichen Volksgesang die fortschreitende musikalische Verunsicherung und der Wandel im Selbstverständnis zu kläglicher Sangesunfähigkeit. Auch früher sang man nicht immer schön, aber man genoß den eigenen Gesang, man ließ die Seele die Flügel ausbreiten. Die Organisten führten oft einen vergeblichen Kampf gegen die inbrünstige Langsamkeit der singenden Gemeinde. Die Dehnung ermöglichte Sonderleistungen einzelner Sänger und Sängerinnen in Form improvisierter Uberstimmen und Verzierungen. Es geschah zur eigenen Erbauung, zur Ehre Gottes und als Bekenntnis der Zugehörigkeit zu einer menschlichen und geistigen Gemeinschaft.

Der moderne Mensch ist kein Bekenner. Obwohl angenommen werden kann, daß heute die Menschen aus echter Religiosität in die Kirche gehen, während sie es früher auch aus gesellschaftlichen Zwängen taten, ist ihr Gebet gepreßt und verschämt — lauter Einzelbeter mit zurückgehaltener Stimme statt einer betenden Gemeinde, und am Gesang nehmen die meisten überhaupt nicht teil. Der Organist bemüht sich, die wenigen ärmlichen Stimmen einfühlsam zu bestätigen und zu unterstützen. Durch Singen äußert sich der Mensch auf besonders intensive Weise. Schon das kleine Kind, das in der Schule vorsingen muß, fühlt sich entblößt. Man kann seinen Gesang nicht schminken und verkleiden, und deshalb schweigt man.

Aber wo immer eigene Tätigkeit abgedrängt oder verhindert wird, entsteht eine saugende Leere. Diese will vollgestopft sein, damit sie nicht gefühlt werden muß. So kommt es zum suchtartigen Konsumieren, zum zwanghaften Knopfdruck. Die Ichlosig-keit des Erlebens führt durch Gewöhnung zur Trägheit des Denkens und Fühlens.

Es ist nicht klug, das Kind mit dem Bade auszugießen. Dank technischem Erfindergeist kann die herrlichste Musik auch in der ärmsten Hütte ertönen. Warum muß die eigene angeborene Musikalität deshalb verkommen? Auch die ängstlich gehüteten seelischen Gefilde des Menschen von heute wollen manchmal trällern oder jubilieren. Wie erfüllen sie sich diesen Wunsch, wenn einmal die Technik nicht funktioniert?

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