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Der Frühling ohne Anfang

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Der Frühling ist ein ewi- J~*fges Thema für Schulaufsätze. Es gibt keine Generation von Schülern, die darüber nicht geschrieben hätte.

Auch die Medien ließen sich den Frühling nie entgehen. Er kommt ja, zumindest im Kalender, mit absoluter Regelmäßigkeit zum gegebenen Datum. Es ist ein risikoloses Thema, zu jeder Zeit und in jedem Regime politisch unverfänglich, selbst in den sogenannten sozialistischen Staaten.

Der Volksmund zählt zwar da den Frühling zu den vier Hindernissen beim Aufbau des Sozialismus, aber das wird selbstverständlich in den offiziellen Medien nicht erwähnt.

Warum die Medien gerne Frühlingsüberlegungen veröffentlichen und selbst Satiriker sie gerne schreiben, ist klar — man möchte auch mal etwas Positives bringen. Und wenn es mal nicht ganz positiv ist, weil sich das Wetter nicht nach dem Kalender richten will, ist es auch gut: Man kann risikolos klagen, jammern oder schimpfen, denn das Wetter gehört zu jenen wenigen Dingen, die nicht von Politikern verpatzt werden.

Im Grunde aber freuen sich alle auf den Frühling, obwohl mir die Gründe dafür etwas unklar sind. Daß sich die Landwirte und Gärtner freuen, ungeachtet dessen, daß sie eben im Frühjahr sehr viel Arbeit haben, kann man noch verstehen: Es ist die Vorfreude auf die künftige Ernte.

Warum aber freue ich mich, ein Städter, der nicht einmal auf dem Balkon eine Pflanze hat?

Ein leidenschaftlicher Spaziergänger bin ich auch nicht. Und als Mann mit Wohnung und im gesetzten Alter gehe ich nicht mit einer schönen Frau in die freie Natur, selbst wenn sich eine fände, die dazu bereit wäre. Abgesehen davon, daß es auch für die Jüngeren in der Natur heute noch zu kalt und zu naß ist.

In der Stadt wird die Natur erst dann schön, wenn die Frauen leichte bunte Kleider anziehen und dadurch noch schöner werden. Bis es soweit ist, wird es aber noch eine Weile dauern.

Jetzt weiß ich, warum wir alle den Frühling so lieben — weil es die Zeit der Vorfreude ist: auf die Wärme, auf die Ernte, auf die schönen Frauen. Richtig freuen kann man sich ja nur im voraus.

Ich bin natürlich auch froh, daß ich eine positive Glosse fertig gebracht habe — es ist heute gar nicht so leicht, positiv zu schreiben. So schön wie einst in der Schule habe ich meinen Frühlingsaufsatz nicht geschafft, so mit Blümchen und Vögelein.

Außerdem — wie soll ich in der Stadt, aus dem Fenster einer Etagenwohnung Primeln und Schwalben beobachten? In der Stadt erkennt man den Frühling daran, daß Gemüse und Eier schmackhafter werden, mitunter sogar auch billiger.

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