7099518-1995_06_16.jpg
Digital In Arbeit

Das Wetter ist schuld

Werbung
Werbung
Werbung

Im Kalender gibt es noch keinen Frühling, aber die Wissenschaftler haben uns schon vor einigen Tagen das Recht auf Frühjahrsmüdigkeit wissenschaftlich und amtlich bestätigt. Frankfurter Medizinmeteorologen erklärten, daß wir bei dem herrschenden Tiefdruckwetter „ein erhöhtes Schlafbedürfnis ” haben.

Es ist sehr schön zu wissen, daß an meiner Unlust, etwas zu tun, nicht meine Faulheit, sondern das Wetter schuld ist. Für das Wetter bin ich ja wahrhaftig nicht verantwortlich! Außerdem freut es mich sehr, einmal eine Aussage von Wissenschaftlern nicht nur wahr, sondern auch sympathisch zu finden; besonders, weil es sich um zwei Sparten handelt - Mediziner und Meteorologen -, über die ich fast so häufig lästere, wie über Statistiker und Puturologen. Ich bin froh, zeigen zu können, daß ich gegen niemanden Vorurteile hege - mir ist jeder herzlich willkommen, der mir Argumente gegen die Arbeit liefert, selbst ein Wissenschaftler.

Es ist natürlich möglich, daß gleich morgen Hochdruck kommt, oder daß schon jetzt draußen kein Tiefdruck mehr herrscht - ich habe hier kein Barometer. Das entkräftet aber unser Recht auf Müdigkeit nicht. Unter Hochdruck muß man sich erst recht bedrückt fühlen, wenn man nur an das Gewicht der Luft denkt. Und das ewige Hin und Her, diese Tiefund Hochsprünge des Wetters machen ja nicht die Atmosphäre müde, sondern uns.

Wie soll man da noch etwas tun?

Und wenn es nur die Luft wäre, die den Menschen drückt! Man steht unter Zeitdruck und Leistungsdruck, Druckerzeugnisse bringen bedrückende Nachrichten - alles und jeder versucht uns zu drücken; wenn man Pech hat, tun es sogar die eigenen Schuhe.

Wenn Druck Grund genug wäre, sich vor der Arbeit zu drücken, hätten wir das ganze Jahr lang ausreichend Begründungen. Das Recht, müde zu sein, wird uns aber offiziell nur im Frühjahr zugestanden. Ist vielleicht dieser miserable Tiefdruck oder Wechseldruck der letzte Tropfen, der das Faß der Müdigkeit zum Uberlaufen bringt?

Eins verstehe ich noch nicht ganz: Wieso ist der Frühling, die Zeit des Müdigkeits-Tiefs, zugleich die Hoch-Zeit der Liebe? Wie reimt sich das zusammen? Wäre die Frühlingsmüdigkeit eine Folge vom intensiven Liebesleben, würde sich niemand über sie beklagen, denn die Liebe verursacht eine liebliche Müdigkeit. Das ist sie aber nicht, denn diese Müdigkeit ist ausgesprochen an die Jahreszeit und nichts anderes gebunden. Man ist in einem bestimmten Zeitabschnitt müde - oder man hat es zu sein —, und zwar im voraus. Unabhängig davon, was man tut oder läßt.

Wie reimt sich also Frühling und Liebe? Müde Liebhaber sind doch wohl nicht das Ideale?

Ich glaube, hier besteht ein Mißverständnis. Alle Regeln, die etwas mit dem Wetter oder mit den Jahreszeiten zu tun haben, sind historische Bauernregeln. Historisch gesehen, konnte in unseren Breitengraden keine stürmische Liebeszeit früher als im Mai ausbrechen - die Wiesen waren noch zu naß. Eben aus diesem Grund wurde der Mai zum Wonnemonat erklärt.

Den ganzen Frühling haben die Poeten der Liebe zugeschlagen, ihre Theoretiker. Für theoretische Liebe reicht es,, wenn der Schreibtisch trocken ist. Daß die Bauern am Anfang des Frühlings Müdigkeit verspürten, ist verständlich - allein der Gedanke an das viele Ackern, das ihnen bevorstand, mußte sie müde gemacht haben.

Heute sind die meisten von uns keine Bauern, trotzdem aber werden wir unser Recht auf die Frühlingsmüdigkeit nicht aufgeben. Wer würde freiwillig auf historisch gewachsene Ansprüche verzichten?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung