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Der Ohrenzeuge
Der Ohrenzeuge bemüht sich nicht hinzusehen, dafür hört er um so besser. Er kommt, bleibt stehen, drückt sich unbemerkt in eine Ecke, schaut in ein Buch oder in eine Auslage, hört, was es zu hören gibt und entfernt sich unberührt und abwesend.
Man würde denken, daß er gar nicht da war, so gut versteht er sich aufs Verschwinden. Schon ist er wo anders, schon hört er wieder hin, er weiß alle Orte, wo es etwas
zu hören gibt, steckt es gut ein und vergißt nichts.
Nichts vergißt er, man muß den Ohrenzeugen sehen, wenn die Zeit gekommen ist, damit herauszurücken. Da ist er ein anderer, da ist er doppelt so dick und um zehn Zentimeter größer. Wie macht er das nur, hat er eigens hohe Schuhe zum Ausplaudern? Stopft er sich etwa mit Kissen aus, damit seine Worte schwerer und wichtiger erscheinen?
Er tut nichts dazu, er sagt es ganz genau, manch einer wünscht sich, er hätte damals geschwiegen. Da sind alle die modernen Apparate überflüssig: sein Ohr ist besser und treuer als jeder Apparat, da wird nichts gelöscht, da wird auch nichts verdrängt, es kann so schlimm sein wie es will, Lügen, Kraftworte, Flüche, Unanständigkeiten jeder Art, Schimpfworte aus abgelegenen und wenig bekannten Sprachen, selbst was er nicht versteht, merkt er sich genau und liefert es unverändert aus, wenn es gewünscht wird.
Der Ohrenzeuge ist durch niemanden zu bestechen. Wenn es um diese Nützlichkeit geht, die er allein hat, nähme er keine Rücksicht auf Frau, Kind oder Bruder. Was er gehört hat, das hat er gehört, daran könnte kein Herrgott rütteln.
Aber er hat auch menschliche Seiten, und wie andere ihre Feiertage haben, an denen sie sich von der Arbeit ausruhen, läßt er manchmal, wenn auch selten, die Klappen über seine Ohren fallen
und verzichtet auf die Speicherung von Gehörtem. Das geschieht ganz einfach, indem er sich bemerkbar macht, er blickt den Leuten ins Auge, was sie unter solchen Umständen sagen, ist ganz uninteressant und reicht nicht dazu aus, sie ans Messer zu liefern.
Wenn er die Geheimohren abgelegt hat, ist er ein freundlicher Mensch, jeder traut ihm, jeder trinkt gern mit ihm ein Glas, harmlose Sätze werden gewechselt. Niemand ahnt dann, daß es der Henker persönlich ist, mit dem er spricht.
Es ist nicht zu glauben, wie unschuldig Menschen sind, wenn sie nicht belauscht werden.
Aus: ALLTAG-KNALLTAG. Guten-Mor-
fen-Satiren. Herausgegeben von Elsemarie laletzke. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt/Main.
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