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Unergiebige Lagebeurteilung

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Schrecklich war es, mit ansehen zu müssen, wie dann einer nach dem anderen eingeschlafen ist. Eine bedrückende, bloß vom Atem der Erschöpften unterbrochene Stille hat sich ausgebreitet. Dabei war unsere Zusammenkunft keine anstrengende, schier endlose, sondern eine kurze gewesen. So gegen sechs Uhr hatten wir uns versammelt. Der Einzug der Masken ist das Erfreulichste gewesen. Jeder hat eine selbstverfertigte Maske getragen. In der Hauptsache sind es, wie wir zu unserer gegenseitigen Überraschung festgestellt haben, Clownsmasken, Spaßmachermasken gewesen. Jeder hatte bei sich gedacht, es würde die anderen erfreuen, ihn in der Maske des dummen August bei der Tür hereinkommen zu sehen. Dann sind aber zehn, zwanzig, ja dreißig dumme Auguste bei der Tür hereingekommen und die Freude, die der Anblick eines dummen August geboten hätte, ist von der großen Zahl der dummen Auguste, die einander verlegen angestarrt haben, paralysiert worden. Schon das mehr oder weniger dumme Herumstehen vor Beginn der Zusammenkunft ist ein beklemmendes gewesen.

Natürlich sind, als die erste Bestürzung überwunden gewesen ist, Überlegungen darüber angestellt worden, wie diese fatale Koinzidenz zustande gekommen sein mochte, war doch unsere Versammlung nicht als Maskenball oder Faschingsrunde geplant gewesen. Daß einige teils aus Scham, teils aus Zorn gerade in diesem Moment damit begonnen haben, ihre zerfledderten Perücken und ihre roten Pappnasen abzunehmen, hat den grausam lächerlichen Anblick, den wir' insgesamt geboten haben, nicht gemildert, sondern im Gegenteil noch verstärkt. Die nun gleichsam nackten Köpfe der Demaskierten aus ihren viel zu weiten, von bunten Flicken übersäten Clownkostümen auftauchen zu sehen, war doppelt makaber. So sind wir dann als halbe oder ganze dumme Auguste in kleinen Gruppen beisammengestanden und haben die eingangs aufgeworfene Frage diskutiert: Warum waren wir nun tatsächlich alle, ohne jede Verabredung, als dumme Auguste erschienen?

Später hat sich das Interesse dann, zumindest vorübergehend, von der Kalamität unserer mißglückten Verkleidungsüberraschung abzuwenden und auf den eigentlichen Grund unseres Zusammentreffens zu konzen-

trieren begonnen. Es hat keiner Glocke, keines Gongschlages, keines Klopfens mit einem Hämmerchen bedurft, um die Gespräche der Anwesenden in diese Richtung zu lenken. Zwar ist da und dort der Ruf Silentium laut geworden, aber er ist gleich wieder im Gemurmel untergegangen. Der Zweck unseres Zusammenkommens ist die Beurteilung unserer Lage gewesen. Der Begriff Lage ist hier in seinem umfassendsten Sinn zu verstehen. Anfänglich ist von zahlreichen Seiten die Ansicht vertreten worden, daß wir die gestellte Frage allein schon durch unser uniformes Auftreten in der Maske des dummen August beantwortet hätten. Auf den ersten Blick schien diese Behauptung auch viel für sich zu haben. Es wurde aber dann von einigen Querulanten und Querköpfen, die es leider auch unter uns noch immer gibt, angeregt, diese Behauptung nicht einfach

auf sich beruhen zu lassen, sondern einer näheren Prüfung zu unterziehen. Zwar wurden in diesem Augenblick schon die Vorspeisen und die dampfenden Suppenterrinen für unser übliches Festmahl aufgetragen und es schien deshalb verständlich, daß die meisten im Anblick der auf Silber und Porzellan servierten Köstlichkeiten Hunger verspürten, nicht länger weiterdiskutieren wollten und zu den Tischen drängten, doch verstanden es die wenigen Quertreiber so geschickt, Unruhe und Unsicherheit unter den Versammelten auszustreuen, daß schließlich alle betreten um die Tafel herumstanden, im Grunde nichts

anderes wollten, als mit dem Essen beginnen, und es doch unterließen. — Was ist denn das wesentliche am dummen August? — Diese Frage wurde jetzt von den Unruhestiftern aufgebracht, und, das muß man schon sagen, sie erreichte ihren Zweck. Nur die Hungrigsten und Unbeherrschtesten haben es gewagt, einander gegenseitig vor den Blicken der anderen abschirmend, hin und wieder ein Stückchen der aufgetragenen Delikatessen zu stiebitzen. Alle anderen sind ganz ernst herumgestanden oder haben vielsagend vor sich hingelächelt. Schließlich, es war eine kollektive Erlösung, hat einer das Schweigen gebrochen. Dieser außerordentlich perfekt kostümierte dumme August sagte: „Das wesentliche am dummen August ist, daß er lächerlich ist, daß man über seine Erbärmlichkeit lachen kann.“ — Von vielen Seiten wurde daraufhin die Frage gestellt, warum wir dann über einander nicht lachen könnten, es seien doch wahrlich genug dumme Auguste hier versammelt, um ein Gelächter hervorzurufen, ja, um einen wahren Lachorkan zu entfesseln. Insbesondere das Wort Lachorkan ist dann eine Weile wie eine drohende Gewitterwolke über unseren Köpfen gehangen. Da hat sich der dumme August, der schon vorhin seine Stimme erhoben hatte, wieder zu Wort gemeldet. — Das ist es eben, hat er gesagt: „Wir sind zwar als dumme Auguste verkleidet, tatsächlich aber ist keiner von uns ein dummer August!“ Diese Feststellung hat starken Zuspruch gefunden. Man hat förmlich gespürt, wie alle von dieser in sich so schlüssigen Feststellung erleichtert waren. Schon hat man da und dort den Ruf zu Tisch gehört. Zum ersten Mal ist jetzt auf unseren Clownsgesichtern ein Lächeln erschienen. Leider hat einer von uns gerade in diesem schönen Augenblick, sei es aus Unüberlegtheit, sei es, was wahrscheinlicher ist, aus Spitzfindigkeit, laut gerufen: „Aber was sind wir dann, wenn wir nicht dumme Auguste, sondern bloß als dumme Auguste verkleidet sind?“ — Allein die Lautstärke des Rufes und noch mehr natürlich sein Inhalt haben allergrößtes Befremden erzeugt. Viele von uns sind in diesem Moment peinlich berührt gewesen. In einzelnen von uns mag allerdings die Überzeugung aufgekommen sein, daß wir nicht nur verkleidete, sondern wahrhaftig echte dumme Auguste waren, denen das Lachen vergangen war. Tatsächlich hat ja auch noch nie ein dummer August über sich selbst, sondern immer haben die anderen über den dummen August gelacht. In einer Versammlung von dummen Augusten gibt es eben nichts zu lachen. Solchen Gedankengängen, und auch das ist nicht erwiesen, hat sich zum Glück nur der kleinste Teil der Versammelten hingegeben. Die große Zahl, und sie hat schließlich das Geschehen bestimmt, hat den vorlauten Ruf einfach übergangen, hat den Rufer stehen lassen und sich aufatmend zur Tafel gesetzt.

Das Tafeln macht ja schon seit langem den Hauptbestandteil unserer Zusammenkünfte aus. An sich haben wir es uns zur Gewohnheit gemacht, uns gleich nach dem Zusammentreffen an die Tafel und und zum Essen zu setzen und gleich nach dem Aufstehen von der Tafel und vom Essen wieder auseinanderzugehen. Es mag wohl an diesen unsinnigen Verkleidungseinfällen gelegen sein, daß wir es diesmal anders gehalten hatten. Das, was man einem anderen zu sagen hat, kann man ihm doch auch während des Essens sagen, oder nicht?

Endlich hatten wir uns also zu Tisch gesetzt. Gleich nach dem Platz-Nehmen ist eine wohltuende Müdigkeit über die versammelte Runde gekommen. Leider war uns die gute Suppe über unserem zwecklosen Disput kalt geworden. Zum Glück hat es eine reichliche Auswahl an kalten Vorspeisen gegeben. Diejenigen, die ihre Perücken, Papp-

nasen und Barte noch auf- oder umgehabt haben, haben diese jetzt ganz' ohne Umstände abgelegt. Diese Versatzstücke hätten sie ja nur beim Essen behindert. — Es ist des Spaßes schon genug gewesen, hat einer gesagt und alle haben ihm, weil ihre Münder voll mit halb zerkauten Speisen waren, wortlos, aber doch bestimmt beigepflichtet.

Das Tafeln hat wie üblich recht lange gedauert. Mit Ausnahme der ersten Bemerkung ist ansonst nicht viel geredet worden. Das ist bei uns ja nie der Fall. Das Schweigen gilt uns als der schönste Ausdruck der vollkommenen Übereinstimmung. Wie gewöhnlich sind zwischen den einzelnen Gängen große Kannen mit Wein herumgereicht worden. Die roten Pappnasen und die strohgelben Perücken, die zwischen den Tellern auf dem Tisch gelegen sind, hat bald keiner mehr beachtet. Unsere Clownskostüme haben wir, da sie uns in keiner Weise beengt haben, direkt als Wohltat empfunden. Jeder von uns hat sich an allem ausgiebig gütlich getan. Obwohl wir stets nur die leichtesten Gerichte auftragen lassen, wirken sie durch ihre Reichlichkeit in der Abfolge doch belastend. Normalerweise beginnen die ersten zwischen dem sechsten und siebenten Gang unauffällig die Vorbereitungen für ein kurzes, erholsames Schläfchen zu treffen. Sie legen ihr Besteck mit einem leisen, aber doch hörbaren Seufzer an den Tellerrand, rücken ihren Sessel ein wenig nach hinten und senken, jetzt haben sie die Augen schon halb geschlossen, das Kinn auf die Brust. Solch kurze Verschnaufpausen sind in unserem Kreis üblich und niemand hat daran je Anstoß genommen.

Diesmal ist aber schon frühzeitig, zwischen dem vierten und fünften Gang, eine allgemeine Erschöpfung aufgekommen. Vom sechsten Gang haben sich nur mehr die wenigsten bedient, der siebente ist kaum angerührt worden. Was sonst in Form eines kurzen Schläfchens abgehalten worden ist, ist heute zu einer in ihrer Disziplinlosigkeit erschreckenden Erschöpfungsorgie ausgeartet. Viele sind über dem Tisch zusammengesunken, haben mit trägen, unsicheren Handbewegungen die Gedecke beiseitegewischt und ihre Köpfe einfach auf die Tischplatte gelegt. Andere wieder sind mit herabhängenden Armen und offenen Mündern auf ihren Stühlen gesessen und nur durch einen glücklichen Zufall vor dem Sturz zu Boden bewahrt worden. Die wenigen, die zuletzt noch als wach und bei Sinnen übriggeblieben sind, haben es aus Scham kaum gewagt, ihre Blicke auszutauschen. Es war auch zu peinlich, das jedem Anstand spottende Betragen der anderen mit ansehen zu müssen. Insgeheim hat wohl jeder die unsinnigen Verkleidungseinfälle verflucht, die die für alle Teile so erschöpfende Diskussion am Beginn des Zusammentreffens hervorgerufen hatten. Nur von dort her ist ja das ungewöhnliche Benehmen der anderen zu erklären gewesen.

Schließlich haben wir Hinterbliebenen uns, von der Stille auf das Äußerste gequält, doch zu einem Vorgehen entschlossen. — „Wir müssen dieser Erschöpfungsorgie ein Ende machen“, hat einer von uns gesagt und wir haben ihm durch ein stummes Nicken Beifall gezollt. Das Wort Erschöpfungsorgie ist uns später, während wir die anderen aufgeweckt haben, wie ein gutes Wortspiel erschienen. Mit der vom genossenen Wein und durch das ausgiebige Essen hervorgerufenen Müdigkeit sind wir dann etwas dumpf im Kopf und ein wenig unsicher auf den Beinen auf die Straße hinausgetreten. Es ist uns gar nicht mehr aufgefallen, daß wir allesamt als dumme Auguste verkleidet waren. Unsere Stimmung ist, wie immer beim Auseinandergehen, die beste gewesen. Die vorangegangene Entgleisung einiger von uns war längst vergessen. Leider hat aber einer und zwar jener, der den Abend schon einmal durch sein unpassendes Reden gestört hatte, schwankend in der Tür stehend gesagt: „Das Spiel ist aus! Jetzt gehen wir wieder in unsere Existenzen hinein!“ — Zum Glück haben ihn die meisten, die sich auf der dunklen Straße bereits zu zerstreuen begonnen hatten, nicht mehr gehört.

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