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Der Schrecken vor der Haustür

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Böse Zungen haben behauptet, die Russen vermöchten sich nur unter Iwan dem Schrecklichen wohl zu fühlen. Kaum habe da ein Zar, Alexander II., die Leibeigenschaft aufgehoben, als man ihm schon eine Bombe vor die Beine warf, so daß er elendiglich verbluten mußte. Und kaum sei ein anderer Zar, Nikolaus II., darangegangen, seine unverschämt großen Ländereien an die Bauern zu verschenken, da habe man ihn auch schon, unter Ausrufung der Republik, abgesetzt und etwas später mitsamt seiner Frau und seinen minderjährigen Kindern auf bestialische Art niedergemetzelt. Und dann habe man sieh wieder Iwans geholt, von denen einer schrecklicher war als der andere. Diese Behauptung ist eine böse Behauptung.

In Wirklichkeit ist das russische Volk nicht besser und nicht schlechter als irgendein anderes. Die Geschichte hat bewiesen, daß überall und jederzeit der Fall eintreten kann, daß eine handvoll Psychopathen ihre Stemstunde erlebt, mit Hilfe der unterentwickelten Schichten, die in jedem Volke vorhanden sind, die Macht ergreift und diese Macht dazu mißbraucht, die Schöpfung zu korrigieren, die Menschheit gewaltsam umzugestalten und nach einem utopischen Klischee zu vereinheitlichen, dessen Herkunft von „Links” oder von „Rechts” wahrhaftig nichts mehr zur Sache , tut angesichts der Hölle, die dann losgelassen ist, um sich auf Erden häuslich einzurichten.

In eine nicht für Ebenbilder Gottes, sondern nach den Idealen des Karl Marx und seinesgleichen eingerichtete Hölle geriet 1944 der ungarische Arzt-Oberleutnant Zoltän Töth und entging ihr erst 1956. Was ihm als Strafgefangenen in jenen Ländern widerfuhr, in denen sich die Unterentwickelten, inspiriert von Psychopathen im Dienste einer Utopie, als Sklavenhalter etabliert haben, könnte als Ausgeburt krankhafter Phantasie abgetan werden, stimmte es nicht so haargenau mit den Schilderungen anderer überein, die überlebten und entkamen. Es geschah — und geschieht noch — während wir uns wohl fühlten, einander mit Standardsymbolen anprotzten, uns überfraßen, in Jesolo badeten, die Kinder antiautoritär verkommen ließen, eine schlechte Opernaufführung ausbuhten, andere beneideten, Energie vergeudeten und die Umwelt verschmutzten. Es geschah, während westliche Regierungen bei den Sklavenhaltern um geschäftlicher Vorteile willen Schlange standen und Theologen darüber nachdachten, wie sie das Christentum der marxistischen Heilslehre anpassen könnten. Solche Sorgen hat man in östlichen Schweigelagern nicht. Dort vollzieht sich die Kreuzigung Christi in Permanenz, dort ist das Entsetzliche alltäglich, dort versuchen Millionen von „Klassenfeinden” zu überleben, dort geschehen auch jene Wunder Gottes, nach denen die Zweifler im Westen vergebens fragen. Wie das geschieht, erzählt Zoltän Töth. Sehr ruhig und sehr menschlich.

Schade nur, daß kein deutscher Lektor sein Manuskript überarbeitet hat, denn man stolpert über die sprachlichen Unebenheiten des in einer dem Autor fremden Sprache abgefaßten Rohentwurfs. Es gibt im Deutschen nicht nur den Konjunktiv, man soll ihn auch richtig anwenden. „In 1945” sagen nur Ungarn; deutsch heißt das „im Jahre 1945” oder, kurz, „1945”. Der „Duce” ist ein „Führer” und kein „Herzog”, in welch letzterem Falle man ihn als „Duca” bezeichnen müßte. Das gutgemeinte Vorwort des Generalmajors Teodoro Paläoios Cuento ist streckenweise unverständlich, streckenweise sagt es anderes, als es meint. Warum sind die Produktionen von Revolutionären (seit Jahrhunderten!) sprachlich so hervorragend und warum sind die Schriften jener, die imstande wären, revolutionäre Phrasen zu entlarven, sprachlich so unbedeutend, daß ein Großteil ihrer Wirkung verlorengeht?

Trotzdem — man sollte, man müßte Zoltän Töths Erinnerungen lesen. Da ist kein Kapitel, das nicht, über die äußeren Unbeholfenheiten hinweg, zu spannen, keine Episode, die nicht zu erschüttern vermöchte. Der Schrecken vollzog sich und vollzieht sich vor unserer Haustür. Verhängt nicht die Fenster!

GEFANGEN IN DER SOWJETUNION, 1945 - 1956. Von Dr. Zoltän Töth. ED-EL International Publi- shers Wien-Köln-Zürich, 1974. 256 Seiten, DM 28.—.

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