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Die Büchse der Pandora

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Wien, 1913. Schönberg und Webern, Hofmannsthal und Karl Kraus, Otto Wagner und Loos, Klimt und Schiele, Franz Ferdinand und Viktor Adler, Porsche und Ettrich, Freud und Holzknecht … wagt man sich an diese Jahreszahl heran, so kann das Resultat nur ein Fragment sein. Der Dichter Milo Dor wußte das.

„Wien, 1913” von Milo Dor und Dieter O. Holzinger zeigte denn auch ein Fragment: das Wien der Revolutionäre oder, richtiger: jener, die es noch werden wollten. Am Rande erriet man, durch den Schleier alter Flimmerstreifen hindurch, ein wenig vom Glanz jener Hochkultur, aus der wir allesamt herabgekommen sind. Es fehlte auch nicht der obligatorische Fingerzeig auf das Proletarierelend, der zum hundertsten- mal bewies, daß man damals mit dem Problem der scharenweise herbeiströmenden Gastarbeiter so wenig fertig wurde wie heute, obgleich heute, im Gegensatz zu damals, alle Erfahrungen und alle technischen Mittel zur Verfügung stünden, um dieses brennendste aller sozialen Probleme zu lösen.

Wien, 1913. Man erfuhr, daß Lenin sich höflich und zurückhaltend verhielt, daß Hitler ein ver schrecktes Kind in Schutz nahm, daß Stalin ein Einzelgänger war, Bucharin ausgeliehenes Geld pünktlich zurückgab, Tito in Wiener-Neustadt zur Arbeit ging, Trotzki hervorragend Schach spielte und Masaryk einem Enthusiasten stumm die Hand drückte. Wien, 1913, das war die Büchse der Pandora in noch verschlossenem Zustand. Man brauchte da nur den Deckel zu lüften, Österreich-Ungarn zu zerstören, und schon entschlüpften dem Schmelztiegel die Schrecknisse, um mit schwarzen Fledermausflügeln in alle Himmelsrichtungen und in die kommenden Jahrzehnte zu entflattern. Sie alle, Hitler ausgenommen, sind dem Cafe Central entsprungen. Man restauriere es schleunigst, denn die Welt lechzt nach Schicksalen, die Zukunft will beginnen und kann es kaum erwarten.

Und aus dem Rückblick auf jüngst gesehene Fernsehnachtprogramme taucht die Erinnerung an die „Zeitmaschine” auf, jenen Film nach einem Buch von H. G. Wells, der trotz mangelhafter Technik und oft recht primitiven Kulissenzaubers beachtlich war. In jahrzehntausendferner Zukunft züchten sich da Industriemenschen, die wie Wagners Nibelungen in lichtlosen Schlünden hausen und dort zu raubtierhaften Wesen degeneriert sind, in oberweltlichen Traum• gärten strohdumme, willenlose und bildschöne Aristokraten, die sie schlachten und auffressen.

Der Gedanke ist nicht abwegig. Ein erster, schüchterner Schritt dorthin könnte die soeben heraufziehende Propaganda für Euthanasie sein, die, wie dergleichen stets, von Skandinavien ausgeht und die uns nunmehr, nach der Fristenlösung, ins Haus steht. Merkwürdigerweise hat in diesem Zusammenhang noch niemand die Frage erhoben, wer denn eigentlich darüber zu befinden hätte, ob man einen Sterbenden mit Gewalt am Leben erhalten soll, wie die Schweden es unlängst mit ihrem alten König taten, oder ob man nach Nützlichkeitserwägungen, Mitleid genannt, den Hahn abdrehen muß. Wer also entscheidet über die Brauchbarkeit Unproduktiver, Sterbender? Die jeweils regierende Partei mit Mehrheitsbeschluß?

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