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Die gütige und würdige Repräsentantin

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Am 5. Mai 1992 Findet im Großen Festsaal der Universität Wien die Verleihung der Gottfried-von-Herder-Preise statt. Sieben Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur sollen dabei geehrt werden.

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Am 5. Mai 1992 Findet im Großen Festsaal der Universität Wien die Verleihung der Gottfried-von-Herder-Preise statt. Sieben Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur sollen dabei geehrt werden.

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Einer wird jedenfalls fehlen: der in Saloniki lehrende Archäologe Mano-lis Andronikos. Er ist vor wenigen Wochen verstorben. Ob die übrigen sechs, der Budapester Volkskundler Jenö Barabäs, die Poetin und erste direkt gewählte Vizepräsidentin Bulgariens Blaga Dimitrowa, der polnische Germanist Stefan Kasziriski, der Prager Historiker Jifi Kofalka, die Laibacher Volkskundlerin Zmaga Kumer und der Bukarester Maler Ion Nicodim, überhaupt erscheinen und wenn ja, unter welchen Umständen sie die ihnen zuerkannten Preise von je 210.000 Schilling annehmen werden, ist vorerst noch ungewiß. Alfred C. Toepfer, der Schöpfer eines ganzen Imperiums von Stiftungen, ist auch hierzulande wegen seiner Vergangenheit und deren Preisvergabepolitik unter starken Beschuß geraten.

Die neue Vizepräsidentin Bulgariens ist eine der berühmtesten Dichterinnen des Landes. Zum Unterschied von Präsident Schelew -er entstammt einer ärmlichen nordbulgarischen Bauernfamilie - wurde sie 1922 als Tochter einer bürgerlichen Familie geboren. Blaga, das bedeutet soviel wie „die Gütige", wuchs im Herzen Bulgariens - in der ehemaligen alten Hauptstadt Weliko Tämowo heran, zog jedoch später nach Sofia, wo sie 1941 den humanistischen Zweg des berühmten „Ersten Mädchen-Gymnasiums" absolvierte. Während ihres Studiums an der Sofioter Universität trat sie der antifaschistisch und prokommunistisch eingestellten Studentenverbindung BONSS bei. Sie absolvierte 1945 in slawischer Philologie. Ihre Gedichtsammlung „Verse für den Führer" erschien 1950 zum Andenken des im Jahr davor überraschend verstorbenen bulgarischen Ministerpräsidenten und berühmten ehemaligen Komintern-Führers Georgi Dimitroff. Nach einer Aspirantur am Moskauer Literaturinstitut für junge Schriftsteller „Maxim Gorki" verteidigte sie 1951 ihre Dissertation mit dem Thema der Revolutionsdichter Wladimir „Majakowski und die bulgarische Poesie". Danach folgte eine Redaktionstätigkeit in einigen Verlagen. 1963 wurde sie Vorsitzende der Abteilung für Dichtung bei der Bulgarischen Schriftstellervereinigung.

Als engagierte Friedensaktivistin fühlte sie sich von ihrem Gewissen dazu getrieben, in den Jahren 1966 bis 1972 mehrfach nach Vietnam, gerade als Bomben wie Regen auf die Erde fielen und Blut in Strömen floß, zu reisen. Im kriegerischen Konflikt der USA mit Vietnam ergriff sie auch bei den Weltfriedenskongressen in Berlin (1969) und Moskau (1971) energisch Partei für das in Schutt und Asche gelegte Land. Ihre starke Betroffenheit und das persönliche Engagement führte sie eindrucksvoll durch die Adoption eines vietnamesischen Mädchens unter Beweis.

Im Jahre 1967 erschienen ihre erschütternden, die Unmenschlichkeit des Krieges anklagenden Gedichte unter dem Titel „Zur Liebe verurteilt" (Deutsch 1981). Neben lyrischen Abschnitten, eindringlichen belletristischen Analysen finden sich skizzenhafte Beschreibungen und sogar Interviews mit realen Personen eng beein ander.

Ab der Mitte der sechziger Jahre führte Dimitrowa vielfältige erzählerische Experimente durch. Sie löste die Ort-Zeit-Relationen an einem autobiographischen Material auf, setzte komplizierte Montagetechniken ein und vermischte narrative mit essayistischen Strukturen.

Bereits Mitte der fünfziger Jahre setzte sich Dimitrowa zusammen mit anderen Literaten gegen die Parteikontrolle in Literatur und Kunst zur Wehr und gründete im Jahr 1988 den „Klub für die Unterstützung der Transparenz (Glasnost) und Umgestaltung (Perestrojka) in Bulgarien" und setzte sich für eine unzensurierte Erörterung aktueller politischer und geistiger Fragen in der Öffentlichkeit ein.

Ihr Wahlerfolg und die daraus resultierende gesellschaftliche Stellung ist zur Zeit im Osten Europas ohne Parallele. Der Gegensatz zwischen ihrer idealistischen Lebenseinstellung und den Pflichten ihres öffentlichen Amtes läßt ihre Reaktion auf die Preisverleihung mit Spannung eiwarten.

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