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Ein Dankbrief

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Sehr geehrter Herr Präsident, Ihr Brief überbringt mir, in Ihrem Namen und im Namen aller, Glückwünsche zu meinem Geburtstag. Verzeihen Sie mein Befremden. Dieser Tag scheint mir nämlidi, meiner Eltern wegen, in die Intimität zweier Menschen zu gehören, die Sie und die anderen nicht kennen. Ich selber habe nie die Kühnheit au/pebracht, mir meine Zeugung und meine Geburt vorzustellen. Schon die Nennung des Geburtsdatums, das nicht für mich, aber für meine armen Eltern eine Bedeutung gehabt haben muß, ist mir immer vorgekommen wie die unstatthafte Nennung eines Tabus und die Preisgabe fremder Schmerzen oder fremder Freuden, die ein fühlender und denkender Mensch beinahe als strafbar empfindet Ich sollte sagen, ein zivilisierter Mensch, da unser Denken und Fühlen zu einem Teil, in seinem beschädigten Teil, an die Zivilisation gebunden ist, an unsere Zivilisierung, durch die wir es längst verscherzt haben, uns audi nur mit den loildestcn der Wilden in einem Atem nennen zu können. Sie, ein Gelehrter von hohem Rang, wissen besser als ich, welche Würde die Wilden, die letzten, nicht ausgerotteten, in allem zeigen, was Geburt, Initiation, Zeugung und Tod betrifft, und bei uns ist es nicht nur der Übermut der Ämter, der uns um einen letzten Rest «cm Scham bringt, sondern vor der Datenverarbeitung und den Fragebögen wirkte ja ein vor-av^eilender, verwandter Geist, der sich siegessicher auf diese Aufklärung beruft, die schon die größten Verheerungen unter den verwirrten Unmündigen anrichtete. Die Menschheit wird noch zur totalen Unmündigkeit erniedrigt werden, nach ihrer endgültigen Befreiung von allen Tabus. Sie gratulieren mir. und ich kann nicht umhin, diese Gratulation in Gedanken weiterzuleben an eine längst verstorbene Frau, eine gewisse Josefine H., die in meinem Geburtsschein als Hebamme eingetragen ist. Man hätte ihr damals gratulieren müssen, zu ihrer Geschicklichkeit und zu einer glatt verlaufenen Geburt. Allerdings habe ich vor Jahren einmal in Erfahrung gebracht, daß dieser Tag ein Freitag war (am Abend soll es soweit gewesen sein), eine Mitteilung, die mich nicht gerade glücklich machte. Wenn es sich vermeiden läßt, verlasse ich an einem Freitag nicht das Haus, ich reise nie an einem Freitag, es ist jener Tag der Woche, der mir bedrohlich erscheint. Es steht aber auch noch fest, daß ich mit einer „halben Glückshaube" auf die Welt gekcmmen bin, ich weiß keinen medizinischen Ausdruck dafür, auch nicht, warum sich im Volk ein Glaube erhalten hat, daß diese oder jene Eigenart an einem Neugeborenen glücksschwanger oder unheilschwanger sein müsse Aber ich sagte schon, ich hätte nur eine halbe Glückshaube gehabt, eine halbe ist besser als gar keine, meint man, aber diese Hälfte einer Bedeckung hat mich tief nachdenklich gemacht, ich war ein nachdenkliches Kind, Nachdenklichkeit und stundenlanges Stillsitzen sollen meine auffälligsten Charakteristika gewesen sein. Heute aber frage ich mich, zu spät, zu spät, was meine bedauernswerte Mutter mit dieser zwielichtigen Nachricht anfangen konnte, einem halben Glückwunsch zu einer halben Glückshaube. Wer möchte sein Kind stillen, es zuversichtlich aufziehen, wenn es ausgerechnet mit einer halben Glückshaube auf die Welt gekommen ist. Was würden Sie, verehrter Herr Präsident, mit einer halben Präsidentschaft, einer halben Ehrung, einer halben Anerkennung, einem halben Hut, ja, was werden Sie selbst mit diesem halben Brief anfangen? Mein Brief an Sie kann kein ganzer Brief werden, auch weil mein Dank für Ihre outen Wünsche nur aus einem halben Herzen kommt. Es sind aber unzumutbare Briefe, die man bekommt, und die Briefe, mit denen man sie beantwortet, sind auch niemandem zumutbar.

Wien, den … Eine Unbekannte

Die .Jugend ist eine Zeit, in der die Konventionen falsch verstanden werden — werden müssen, entweder blindlings bekämpft oder blindlings befolgt.

Paul Valėry

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