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Eine ungewöhnliche Frau

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Über Ihre ersten autobiographischen Aufzeichnungen setzte Lou Andreas von Salome den bezeichnenden Titel „Grundriß“. Das geschah bereits in den Jahren 1931 bis 1932. Schon — für uns. Für sie müßte es heißen: erst, denn sie war bereits in ihr achtes Lebens Jahrzehnt eingetreten. Ein Jahr später schrieb sie einige ergänzende Kapitel: „Was am Grundriß fehlt.“ Weitere Notizen folgten, vor allem das Kapitel .April, unser Monat, Rainer“ und das Porträt ihres Mannes, des Iranisten Hans Friedrich Andreae, den Lou 1887 geheiratet hatte. Damit zögerte sie am längsten, denn diese Ehe war mehr und weniger, als man gemeiniglich darunter versteht. Doch damit sind wir schon mitten in den menschlichen und seelischen Problemen dieser merkwürdigen, faszinierenden Frau.

Sie wurde 1821 in St. Petersburg geboren. Der Vater, russischer General französischer Abstammung aus dem Baltikum, die Mutter dänischdeutscher Abkunft. Lou von Salome beteuert immer wieder, daß in ihrem Elternhaus nur deutsch gesprochen wurde. Aber man konnte ebensogut Russisch wie Französisch reden — wie es in der damaligen Petersburger Gesellschaft üblich war. Lou starb 1936 und hat als Nachlaßverwalter einen Mann bestimmt, der in jenen letzten schweren Jahren ihr aufmerksamster Zuhörer war: Doktor Ernst Pfeiffer, der ihre Erinnerungen aber erst 1951 herausgab. Dann erschien 1967 eine erweiterte Ausgabe, und nun liegt die mit 70 Seiten wichtigen Anmerkungen versehene Taschenbuchausgabe vor, die auch eine Bibliographie der Schriften Lous und, natürlich, auch ein Namensregister enthält.

Dieser „Lebensrückblick“ beginnt nicht mit lieblichen Kindheitserinnerungen, sondern mit dem Erlebnis „Gott“ und der Begegnung seines Stellvertreters auf Erden, dem evangelischen Prediger an der dänischen Botschaft in St. Petersburg, Gillot (der Name wurde nicht französisch ausgesprochen). Er studierte mit ihr nicht nur Theologie (was sie später in Zürich fortsetzte), sondern auch Philosophie, besonders Kant. Und er wurde für die Siebzehnjährige zur Vaterfigur — wie auch das Verhältnis zu ihren fünf Brüdern Lous späteres Verhältnis zu Männern gewissermaßen „archetypisch“ prägte: im Sinne einer freundschaftlichen Kameraderie.

Nach einem ersten Zusammentreffen mit ihr schrieb der Nietzsche-Freund und Musiker Peter Gast: „Sie ist wirklich ein Genie und von Charakter ganz heroisch, von Gestalt ziemlich groß, gut proportioniert, mit hellen Augen, blondem Haar und einem altrömischen Gesichtsausdruck. Ihre Einfälle lassen erkennen, daß sie sich bis an den äußersten Horizont des Denkbaren, sowohl im Moralischen als im Intellektuellen, gewagt hat. Ein Genie an Geist und Gemüt.“

Peter Gast hatte gut beobachtet. Denn Lou von Salome war, obwohl sie etwa 20 Bücher und etwa 120 Artikel schrieb, alles andere als eine „Literatin“ und mehr als die „Freundin großer Männer“, obwohl sie deren viele gekannt hat. Mit dem 17 Jahre jüngeren Rilke war sie eng befreundet und unternahm mit ihm, in den Jahren 1899 und 1900, zwei ausgedehnte Rußlandreisen, die sie bis an die Wolga, nach Jaroslawl, führte, wo sie längere Zeit in einer Hütte, russisch Isba genannt, hauste. Die Rückkehr aus Rußland war für beide wie das Verlassen einer inneren Heimat.

Durch den Moralphilosophen Paul Ree, der nach gescheiterten Habilitationsbemühungen später Medizin studierte, sich dann ganz der Medizin zuwandte und als Armenarzt im Engadin einen frühen Tod fand, lernte sie Friedrich Nietzsche kennen, den mehr als 20 Jahre Jüngeren. Sie bildeten ein Dreigestirn, dem Ernst Pfeiffer unter dem Titel „Die Dokumente ihrer Begegnung“ ein umfangreiches Buch gewidmet hat. Das Motto ihrer Freundschaft war ein Spruch Goethes: „Uns vom Halben zu entwöhnen / Und im Ganzen, Guten Schönen / Resolut zu leben.“ Lous Todfeindin war die Nietzsche-Schwester Elisabeth, die später von ihrem Mann Bernhard Förster, einem der frühesten Antisemiten, mit dessen Judenhaß angesteckt wurde (Ree war jüdischer Herkunft) und die auch auf Richard Wagner einen verhängnisvollen Einfluß ausgeübt hat, zumal es in Bayreuth, vor allem bei Cosima und später in den Büchern von Wagners Schwiegersohn Huston Steward Chamberlain, immer einen latenten Antisemitismus gegeben hat. Aber dieser war Lou ebenso verhaßt wie Nietzsche, der sich ja später ganz von seiner Schwester trennte.

Eine der wichtigsten Begegnungen Lous war die mit Sigmund Freud, den sie aus Schweden, von Ellen Key kommend, auf dem ersten großen psychoanalytischen Kongreß 1911 in Weimar kennenlernte. Ihm war sie bis zum Ende verbunden, was der später veröffentlichte Briefwechsel ebenso bezeugt wie Aufzeichnungen Lous' über ihre Lehrjahre bei Freud. Sie war von der „Gottverlassenheit des Universums“ überzeugt und war so „ganz ins Wirkliche“ gewiesen. Die „Schicksalsgemeinschaft mit allem, was ist“ verleiht Lous Philosophie Züge des modernen Existentialismus. Dazu gehört auch ihre unbedingte Wahrheitsliebe. Doch verstand sie, über vieles zu schweigen. Diese „Lücken“ hat dann ihr späterer Biograph H. F. Peters („Das Leben der Lou Andreas Salome“, erschienen im Kindler-Verlag) sehr gegen den Willen ihres Nachlaßverwalters geschlossen.

Lous Bekanntenkreis reichte von Tolstoi, Hauptmann, Strindberg und Wedekind bis zum sozialistischen Politiker und Publizisten Georg Ledebour und bis zum Wiener Kreis um Schnitzler, Beer-Hofmann, Hofmannsthal und Altenberg, und bereits 1895 bescheinigte ihr Marie von Ebner-Eschenbach: „Lou ist unter den heutigen Dichterinnen die geistigste, die psychologisch tiefste...“

Natürlich drängt sich bei dieser „Freundin vieler großer Männer“ der Vergleich mit Alma Mahler-Gropius-Werfel auf. Aber diese Konfrontation fällt sehr zugunsten Lous aus. Denn sie war eine kreative Persönlichkeit und hatte den weiteren Horizont. Und sie war die Diskretion in Person. Die Herkunft mag gewiß auch eine Rolle gespielt haben. Die in Moskau Geborene, in vielen Großstädten Beheimatete war eben aus anderem Holz als die ehemalige Schindler-Tochter, die sich, je älter sie wurde, immer mehr zur Tratschtante entwickelte. Leider.

LEBENSRÜCKBLICK. Von Lou Andreas-Salome. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Ernst Pfeiffer. Neu durchgesehene Ausgabe. Mit Abbildungen und einem Nachwort. Insel-Verlag, 516 Seiten.

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