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Eine wahnsinnige Idee

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Der Auszug etäm» Tagee- buch der Therese Wasser- mann aus Niederdorf (Pu- stertai) gibt Einblick in die „heiße Phase" der Options- zeit und ist einzigartige Quelle zur Zeitgeschichte.

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Der Auszug etäm» Tagee- buch der Therese Wasser- mann aus Niederdorf (Pu- stertai) gibt Einblick in die „heiße Phase" der Options- zeit und ist einzigartige Quelle zur Zeitgeschichte.

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26. Juni 1939: Bekanntwerden des deutsch-ital. Auswanderungs- Abkommens. Allgemeine Aufre- gung. Schuld wird von der Bevöl- kerung Italien gegeben. Bis Anfang Juli immer derselbe aufgeregte Zustand. -

10. Juli: Heute war im Geschäft ein ital. Offizier, der zum erstenmal uns aufklärte. Die Bevölkerung kann wählen, abwandern freiwil- lig, außerdem würden den hier Verbleibenden Vorteile zugewen- det, Sprache und Kultur gewähr- leistet. -

23. Juli. Alle Leute noch immer äußerst verzagt. - Unsere Fremden (ein Graf aus Rom, hoher Partei- funktionär) versichern, daß jeder, der für Italien wählt, auch bestimmt hier in der Provinz Bolzano auf seinem Grund und Boden bleiben darf und nicht nach den alten Pro- vinzen verschickt wird.

Anfang August. Schlechte Sai- son. Fremde wollen nicht herauf- kommen, da allerlei Greuelmärchen von Aufständen und Revolten im Alto Adige in Umlauf gebracht werden.

9. August. Heute hörte Emma (die Schwester von Therese Wasser- mann; Anm. d. Red.) zum ersten Mal von nationalistischer Seite (Hitler-Propaganda) den Plan der Abwanderung von 95 Prozent. - Eine wahnsinnige Idee. Mitte Au- gust. Rücksichtsloses und brutales Eingreifen der Hitlerpropagandä. Unsere Leute, so verzagt sie sind, wehren sich noch gegen diese Idee, und mehrere erklärten, sich lieber im Friedhofe auf den Gräbern ihrer Lieben erschießen zu lassen, als von hier fortzugehen.

Kronprinz Umberto war in Brük- kele. Von unserer Bevölkerung nie- mand erschienen außer wir und Kühbacher. -

Ende August: Hoffnung auf den Krieg und Aufschiebung der Ab- wanderung. -

Ein Sohn der hier lebenden, aus Jugoslawien eingewanderten Fami- lie Kamentschek ist in Deutsch- land und suchte heuer um das Staatsbürgerrecht an. Er erhielt es, mit dem Auftrag, sich einen deut- schen Namen zuzulegen. Er hat es und ist somit ein Germane. Reim dich oder ich freß dich. 1. Septem- ber. Kriegserklärung. Alles über- zeugt, Hitler gewinnt. Wir in Angst.

Anfang Sept. Trotz aller Propa- ganda hat man noch keinen Über- blick, wie viel Prozent sich für die Abwanderung entschließen. Einmal sieht's aus, als ob alles bleiben würde, dann wieder das gerade Gegenteil. - Schon seit Ende Au- gust verlassen die Fremden unsere Sommerfrische. Viel zu früh. Unser Haus und die Villa sind schon leer, was andere Jahre erst viel später der Fall war. Alle fürchten sich, daß Ital. eingreift. - Unsere Frem- den munkeln, daß zwischen Rom und Berlin nicht die besten Bezie- hungen bestünden.

Marie Bachlechner, Vater aus Villgratten, war fast 2 Jahre bei uns bedienstet und muß nun als Reichs- deutsche abwandern. Merkwürdig ist der Erfolg der Propaganda, obwohl das Mädchen nicht beson- ders intelligent, und wir ihr oft rieten, die ital. Staatsbürgerschaft zu erwerben, da alle ihre Verwand- ten hier sind, so schlug sie es alle- mal aus, mit dem Hinweis, es sei halt doch schöner, zu einem so großen und geachteten Volk zu gehören. Sie trug auch immer die reichsdeutschen Abzeichen, und zuletzt zur Abwanderung stimmte sie ihr Kleid auf schwarz, weiß, rot ab.

28. Okt. Heute Schicksalstag. Wir haben für Italien gewählt, als die ersten in der Gemeinde. Ausdrück- lich erklärte Podestä Ambrosi, es sei garantiert, daß wir auf unserem Besitz bleiben dürfen und nicht hinunter gehen müssen. Vom Ste- germarkt heute heraufgefahren. Lebhafte Debatte wegen der Wahl. Einer sagte: Sobald ich zur Wahl gehe, erkundige ich mich genau bei der Behörde, ob ich auch auf mei- nem Gute bleiben kann. Wenn es mir offiziell versprochen wird, dann wähle ich für Italien, ich will nichts anderes, als auf meinem Gütl in Frondeigen hausen. Teilweiser Widerspruch, ja, doch hatte er die Mehrheit auf seiner Seite. -

Wie wir im Radio hörten, sei der Gestapo Chef Himmler mit der Abwanderung der Volksdeutschen aus Südtirol von Hitler betraut worden. -

In den Innsbrucker Nachrichten ein Artikel erschienen, wonach im Inntal große Volkswohnbauten errichtet würden, für die Südtiro- ler Umsiedler. Große Freude heute bei den Nazis. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich diese Nachricht, und im Nu waren alle Nummern vergriffen. -

II. November: Heute hielt beim Vormittagsgottesdienst der Coope- rator eine scharfe Predigt gegen die Abwanderung. Er schilderte die Zustände im Reich und schloß mit folgenden Worten: Wer trotz allem noch hinaus wählt, ist nicht mehr wert, in geweihte Erde bestattet zu werden. Allgemeine Aufregung. Nach Schluß des Gottesdienstes mehrere Proteste von seiten der Bürger im Pfarrhof.

13. November. Eine große An- zahl Bauern und Bürger wählten für Deutschlandi Anzeige des Cooperators gegen einzelne Nazi- Führer wegen beleidigender Aus- drücke.

Aus der Kulturzeitschrift „Sturzflüge" Nr. 29/30 - Dezember 1989, die in Bozen erscheint.

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