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Einsame Frau am Morgen

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Sie stand in der Stille des Zimmers. Ihr Atem ging hindurch, und mit jedem Zug war es ein Schnitt. Die Teilung begann mit ihrem Eintritt. Sie vollzog sich nach dem Herzen. Sein Anruf und seine Absage waren das Maß. Die Brust hatte sich nur zu heben oder senken. Das war das Äußere. Das

Innere führte den Schnitt. Von dort kam der Anstoß: zum Sprung, zur Pause, zu den jagenden Stößen, zur Verhaltung.

Sie starrte auf den Anzug, den er über der Stuhllehne hängen gelassen hatte. Die Hose war zusammengelegt, soweit es die Beine betraf. Weiter nach oben lief der Bug neben den Falten. Den Rock hatte er um die Lehne gelegt (man zieht eine Vogelscheuche so an), und unter dem Kragen stieg eine quere Falte empor. Es war, als hätte er ihn an: Die Hände in den Taschen der Hose, die Schultern nach vorne und hochgezogen (wie immer, wenn es ihn fror, er nachdachte, sie überhören wollte).

Das schwarze Band des linken Halbschuhs war ausgefranst. Auch war es geknotet. Die Schuhe standen hier ohne Ruhe. Es schien, sie hätten sich gerade auf die Wanderschaft gemacht, aber noch einmal innegehalten.

Sie befahl ihren Händen sich nicht zu regen (ein Konflikt), bis der Blick abfiel und weiterstieß.

Die Aschenschale war die Hülse einer Granate. In das Metall waren Zeichen eingegraben, die ihr nichts sagten. Einmal hatte er versucht, es zu erklären: Die

Sehnsucht in der langen Nacht des Nordens, die den Blick in die Tiefe zwingt.

„Man muß es in sich hereinholen“, hatte er gesagt, „in den eigenen Kreis. Nahe oder fern gilt nicht viel vor dem Gesetz der Tundija. In die sehr lange Dunkelheit rußt die Tranlampe. Dann hält man sich mit den Händen fest an den eigenen Gedanken. Ein Stück Holz oder ein Metall nimmt den Kopf eines Hundes an oder ein Brunnendach, einen Vogel, auch eine Blume. Das ist dann ein ganzer Sommer, oder was aus allen Sommern blieb, und ist die Geschichte für viele Nächte.“

Sie hatte ihn nicht verstanden. Für sie blieb es die Hülse einer

Granate, der klamme Finger ein Gesicht hatten einritzen wollen.

„Ich müßte die Zigarettenreste entfernen“, dachte sie, ohne es heute zu tun. Dabei bemerkte sie einen verkohlten Fleck in der hellen Platte des Eichentisches. Eine Röte des Unmuts wallte über ihr Gesicht, sie ahnte, daß es sie ärgerte, doch wurde es ihr nicht bewußt.

Der Deckel der Schreibmaschine lehnte am Fuße des Tisches — zum Umfallen müde.

Sie sah darüber hinweg. Die glänzenden schwarzen Teile der Maschine, die blank geschlagenen Tasten fielen sie an wie ihr Haß. Es lockte sie, darauf zuzugehen und das gelbe, schlechte Papier, das noch eingespannt war (welch ein Einfall, so ein Papier zu kaufen), herauszureißen.

Sie beugte sich vor. Ihr Atem griff vor ihr her. Schneller, schneller, daß die Maschine anlief unter dem Hauche und der Glanz erblindete. Der kalte Hohn wich zurück. Sie hielt inne. Das Papier bog sich ihr entgegen, fiel nach hinten, wippte wieder nach vorn. Der Kohlebogen knisterte.

Sie zwang die Augen, den Buchstaben, die schwarz und in das weiche Papier eingegraben waren, den Sinn zu entreißen.

Als es gelang, sank die gespannte Linie ihres Mundes, von der Unterlippe nach den Winkeln gehend, zusammen, löste sich auf: trostlos, leer, besiegt.

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