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Führerschein trotz Hirntumor?

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„Himtumorkranke Kraftfahrer begehen nachweislich weniger Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung als ihre gesunden Kollegen. Man kann nicht sagen, daß von ihnen eine erhöhte Gefahr für die Verkehrssicherheit ausgeht!“ Mit dieser Aussage stellte Univ.- Prof. Gerhard Ritter (Neurologische Klinik der Universität Göttingen, BRD) praktisch alle in der Beurteilung von Gehirntumorkranken als Regel angenommenen Vorstellungen auf den Kopf. Prof. Ritter hielt sein Referat beim 21. Neuropsychiatrischen Symposium in Pula, Jugoslawien (Generalsekretär: der Grazer Univ.-Doz. Dr. Gerald Grinschgl). Praktische Auswirkungen könnten seine Studien auf die Führerscheinvergabe in Österreich und Deutschland haben.

Gemeinsam mit der deutschen Wissenschaftlerin Maria Woldert (Poliklinik Göttingen) hatte Prof. Ritter bis zum Frühjahr 1981 mehr als hundert Patienten untersucht, die an Hirntumoren erkrankt waren, bis zur Diagnose ihrer Krankheit einen Führerschein schon länger als fünf Jahre besaßen und durchschnittlich mindestens 10.000 Kilometer pro Jahr „auf Achse“ waren.

Die Ergebnisse der Untersuchungen, die auch ausführliche Interviews mit den Patienten über ihre Fahrgewohnheiten einschlossen, sind verblüffend:

• Nur 17 Prozent der Kranken hatten im Lauf der letzten Jahre wegen diverser kleiner Vergehen eine negative Eintragung in den deutschen Zentral-Ver- kehrscomputer in Flensburg (ein „Strafmandat“) erhalten. Der Gesun- den-Durchschnitt liegt mit 29 Prozent um rund zwei Drittel höher. Das bedeutet: die Patienten - deren Erkrankung erst später bekanntgeworden war und die deshalb den Führerschein verloren hatten - hielten sich genauer an die Vorschriften als Gesunde.

• Die Folgen von Unfällen hirntumorkranker Patienten sind signifikant geringer als bei gesunden Kraftfahrern. In keinem einzigen der untersuchten Fälle wurde eine der an den Unfällen beteiligten Personen schwer verletzt. Damit lag die Kontrollgruppe wesentlich besser als ihre gesunden Kollegen in der Bundesrepublik, wo es alljährlich bei rund 400.000 Unfällen allein 15.000 Tote gibt (3,75 Prozent). Nach der statistischen Hochrechnung hätte es also bei den Unfällen, an denen Tumor- kranke beteiligt waren, mindestens drei Todesopfer geben müssen.

Allerdings gibt es innerhalb des Krankheitsbildes deutliche Differenzen. Patienten mit Tumoren im Bereich der Hypophyse und mit „Akustikus- Neurynomen“ hatten ungleich höhere Unfallziffern aufzuweisen. Das läßt nach Ansicht des deutschen Wissenschaftlers den Schluß zu, daß alle anderen Arten von Hirntumoren in bezug auf die Verkehrssicherheit als gutartig gelten können.

Was das praktisch bedeutet, schilderte der Forscher bei seinem Vortrag in Pula: „Die bisherigen Vorurteile diesen Kranken gegenüber wirken sich bei

uns in der Bundesrepublik Deutschland negativ auf die Erteilung eines Führerscheines aus. Diese Einstellung war jedoch auf Meinungen und Mutmaßungen begründet, die sich nur auf Einzelfälle, also statistisch nicht relevantes Krankengut bezogen. Mit unserer Untersuchung stellen wir den Verantwortlichen für die Verkehrsgesetzgebung erstmals gesicherte statistische Daten zur Verfügung.“

Die Konsequenzen, die die Verantwortlichen ziehen müßten? Prof. Ritter meint: „Es ist jetzt klar, daß auf die Diagnose .Hirntumor’ nicht automatisch der Führerscheinentzug folgen muß. Der Verlust der Fahrerlaubnis ist ein schwerwiegender Eingriff in die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten, eine soziale Benachteiligung, die Dir Tumorkranke und auch für operierte Patienten oft empfindliche Auswirkungen im Berufsleben hat.“

Die bisher in Deutschland gehand- habte Methode, Patienten mit Hirntumoren den Führerschein zu entziehen - oder ihnen dies Dokument überhaupt nicht zu erteilen - ist also „statistisch nicht begründbar“, betonte der Göttinger Experte.

In Österreich ist die Gesetzgebung in dieser Hinsicht zwar toleranter, dennoch sind die Studien für kranke Autofahrer hier nicht ohne Bedeutung.

In Österreich gilt grundsätzlich jeder Verkehrsteilnehmer, der an schweren Erkrankungen des Zentralnervensystems leidet, die mit (auch nur fallweisen) Sinnesübertragungen verbunden sind, von vornherein als nicht verkehrstauglich. Doch betont Min.-Rat Otto Ventruba vom Gesundheitsministerium: „Im Lauf der letzten Jahre hat sich eine wesentlich individuellere Behandlung von Führerscheinansuchen durchgesetzt. Es kommt jetzt auf die Entscheidungen des Amtsarztes an, ob ein Bewerber tauglich ist oder nicht. Wir scheuen uns nicht, bei ausreichender Behandlung und bei einem zufriedenstellenden Verlauf der Erkrankung - die die Annahme zuläßt, der kranke Autofahrer werde sich so verhalten wie ein Gesunder - eine befristete Lenkerberechtigung zu erteilen.

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