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Gase aus Prinzip

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„Lesen Sie wieder über Jagd auf Tiger?" fragte der Vogel und zeigte mit dem Kopf auf das Buch, das der Mensch unter dem Arm trug.

„Eure Fähigkeit, euch selbst zu betrügen, ist so lächerlich, daß sie schon bewundernswert ist. Sie sitzen in einem weichen Sessel in Ihrem Käfig, schauen sich kleine schwarze Zeichen au.f dem Papier an und versetzen sich in die Aufregung einer Jagd, die andere Menschen erlebt haben oder die gar nicht stattgefunden hat. Mir müssen Sie nicht erzählen, wie schön eine Jagd sein kann! Aber so, auf dem Papier ... Zugegeben, auf diese Art ist die Begegnung mit dem Tiger für Sie ungefährlich."

„Nein", lachte der Mensch, „diesmal ist es kein Abenteuerbuch, ganz im Gegenteil. Es ist ein Schulbuch. Ich muß über die Ausdehnung von Gasen nachlesen. Mein kleiner Sohn will, daß ich es ihm erkläre, und ich habe alles total vergessen."

„Warum will Ihr Sohn es wissen? Was hat er mit Gasen zu tun?"

„Er muß es für die Schule wissen." „Warum?"

„Weil man ihn danach fragen wird. Und er wird danach beurteilt, wieviel er weiß."

„Sie waren doch seinerzeit auch in der Schule und haben das mit der Ausdehnung gelernt. Wieso wissen Sie es nicht mehr? Wir Vögel vergessen nichts davon, was wir einmal erfahren haben. Außer wenn es etwas Unwichtiges ist, was wir nie mehr brauchen."

„Ich habe auch diese Formeln und Gesetze nie gebraucht, seit ich die Schule verlassen habe. In meinem Beruf habe ich mit solchen Dingen nichts zu tun."

„Wozu haben Sie es also gelernt?" fragte der Vogel verwundert. „Ich dachte, ihr lernt in der Schule das, was ihr fürs Leben braucht."

„Na ja", meinte der Mensch etwas unsicher. „Man konnte ja damals nicht wissen, welchen Beruf ich wählen würde. Wäre ich zum Beispiel Physiker oder Techniker geworden, hätte ich es gebraucht."

„Will Ihr Sohn Physiker oder Techniker werden?"

„Nein. Er will Musiker oder Erzieher werden."

„Muß man sich da auskennen, wie sich Gase ausdehnen?"

„Nicht unbedingt. Es gehört aber zum Allgemeinwissen."

„Zum Allgemeinwissen gehört es wohl nicht", meinte der Vogel,

„denn Sie wissen es nicht mehr. Ihr Sohn wird es lernen und auch vergessen, weil er es auch nicht braucht."

„Vielleicht wird er es einmal brauchen", sagte der Mensch lächelnd. „Spätestens, wenn er selbst ein Schulkind hat und es ihm erklären muß ..."

„Man lernt also in der Schule Dinge, die man nur für die Schule braucht. Und wenn man sie zufällig doch im Leben braucht, wie Sie heute, kann man sich ein Buch holen und nachlesen. Ist das nicht Zeitvergeudung? Haben Sie viel davon vergessen, was Sie in der Schule gelernt haben?"

„Tja ... sicher die Hälfte."

„Und dann klagt ihr, daß ihr so lange braucht, um euch fürs Leben und für den Beruf vorzubereiten! Und was passiert, wenn Ihr Sohn die Formeln für Gase nicht lernen und die Zeit dazu nutzen wird, sich mit seiner Musik zu beschäftigen?"

„Dann wird er schlechte Noten bekommen und in der Schule nicht vorankommen. Ohne Schulzeugnis geht aber heute fast nichts."

Der Vogel schaute ihn mißtrauisch an: „Wenn jemand nicht genau weiß, wie sich Gase ausdehnen, kann er nicht Musiker werden?"

„Ach, Musiker vielleicht doch. Ein Erzieher muß aber einen entsprechenden Schulabschluß haben."

„Auch wenn er sonst gut mit Kindern umgehen kann?" „Auch dann."

„Das bedeutet aber, daß diejenigen von euch, die viele unnütze Dinge wissen — das heißt, sie wissen es in der Schule, dann vergessen sie es ja —, gute Zeugnisse kriegen und in eurer Rangordnung eine besser Stellung bekommen."

„Nicht unbedingt. Aber sie haben zweifellos einen leichteren Weg nach oben."

„Es kann also passieren, daß einer über euch richtet oder eine Menge niederer Menschentiere leitet — nur weil er in der Schule besser wußte, wie sich Gase ausdehnen?"

Der Mensch war ein wenig schockiert. „Wie gesagt, so direkt ist dieser Zusammenhang nicht", stammelte er. „Im Prinzip ..."

„Danke, mehr wollte ich nicht hören", sagte der Vogel. „Wann immer Sie ,1m Prinzip' sagen, kommt irgendeine Ausrede."

(Aus „Gespräche mit dem Vogel". Mit Zeichnungen von Marian Kamensky, Albrecht Knaus Verlag, München und Hamburg 1984. öS 154,50).

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